Warhol und die Empörungskultur

Es ist erstaunlich, wie sehr zwei ansich komplett unterschiedliche Themenbereiche derart miteinander verwoben werden können. Die Neuzeit und das Internet machen es möglich.

Worum es geht? Ich bin über einen Artikel gestolpert, der mich zunächst ratlos machte. In einer der „renommierten“ Zeitungen1 gab es einen Bericht über Catcalling. Jetzt musste ich selber erst einmal die Suchmaschinen befragen2, was es damit aufsich hat.

Mit Catcalling ist gemeint, so verstehe ich es zumindest, wenn Männer Frauen im öffentlichen Raum mit sexistischen Äußerungen oder Gesten begegnen.

Nun gibt es sicher diverse Sprüche, mit denen Männer der Weiblichkeit gegenüber anzüglich werden, was ich auch absolut als verabscheuungswürdig brandmarke.

Allerdings habe ich auch das Gefühl, dass die Menschen insgesamt empfindlicher geworden sind.

Wäre früher eine (selbstbewusste, starke) Frau über solche Dinge natürlich je nach Ausprägung mit einem Lachen oder Kopfschütteln darüber gestanden, wird sich heute empört, und das möglichst lautstark. Wurde es früher als Zeichen für persönliche Attraktivität gewertet, wenn Pfiffe oder Sprüche gekommen sind, muss man heute sich als genderfiziert, in eine Schublade geschoben oder sonst irgendwie beleidigt fühlen.

Ich weiß, dass ich als Mann hier natürlich befangen bin und die Situation höchstens begrenzt nachvollziehen kann. Vielleicht sollte ich mich als Täter fühlen, wenn auch nicht als aktiv aber doch der Gruppe meiner Geschlechtsgenossen3 angehörend und in Sippenhaft verharrend.

Im Zeitungsbericht, komplettiert mit Fotos, haben sich also Betroffene4 als Opfer präsentiert, die ihre negativen Erfahrungen5 mit Kreide auf die Straße geschrieben haben, unterstützt von einem Mann6.

Als Ursache für derartige Meldungen sehe ich mehrere Trends, die Reihenfolge ist keine Wertung.

Schneller, billiger Journalismus

Machen wir uns nichts vor, Investigativjournalismus kostet Zeit und Aufwand, den keiner dank der Geiz-ist-geil und Gratis-Mentalität bezahlen will. Und so wird auf Masse produziert, mit kleinen aber rechtlich unproblematischen Aufregern7, erstellt von Praktikanten, die sich Hoffnungen auf eine unterbezahlten Festanstellung in Verlagshäusern erhoffen.

Vermutlich ist es auch die Anforderung, mit möglichst hohen Schlagzahlen Schlagzeilen produzieren zu müssen, was solche Aufreger in die Öffentlichkeit trägt.

Urbanisierung für alle!

Der Trend, dass nur in großen Städten Lebensglück zu finden sei, spielt vielleicht auch eine Rolle. Dass Großstädte allerdings durchaus ungesund sind, sollte bereits seit den Abgas-Skandalen und Fahrverboten in Innenstädten erkannt worden sein.

Diese negativen gesundheitlichen Auswirkungen gilt nicht nur für die Physis, sondern viel mehr noch (und weitestgehend undiskutiert und empörungsfrei akzeptiert) die Psyche.

Nicht für jeden Menschen ist die Stadt der geeignete Lebensraum. Hektik, Lautstärke, Stress, ein Übermaß an Sinneseindrücken können belasten, von ungesunden Verhaltensweisen8 mal ganz abgesehen!

Und so kommen Meldungen wie das Catcalling natürlich aus der Großstadt, am Dorf würde man darüber ausgelacht werden.

Selbstbewusstsein, Konfliktfähigkeit

Lehrer können wahrscheinlich ein Lied davon singen, wenn sie versuchen müssen, den Sprößlingen, allesamt hochbegabt und vom normalen Lehrstoff gelangweilt, Wissen ins Hirn zu beamen.

All die kleinen Prinzessinnen und Prinzen, Genies und vermeintlichen Überflieger mit Verlust jeglicher Bodenhaftung kommt die außergewöhnliche Situation zuteil, dass ein übertriebenes Selbstbewusstsein auf mangelnde Konfliktfähigkeit und noch geringeres Basis-Wissen trifft.

Kompetenzen statt Wissen, Ausdiskutieren unter Aufsicht Erwachsener9 statt (archaisches) Raufen um das Recht haben, körperliche Unausgelastetheit bei Überlastung der Sinne10 und Töten der Phantasie durch vorgegebene visuelle und akustische Ableitungen von Literatur sind eine denkbar schlechte Voraussetzung für einen maßvoll selbstbewussten, konfliktfähigen, um die eigenen Schwächen bewussten Nachwuchs.

Oversexing11

Es ist nicht nur die Werbung von Amoreli, EIS.de & Co. auch zu normalen Sendezeiten, die eine Überhöhung der Bedeutung dieses einen zwischenmenschlichen Aspekts verursacht. „Sex sells“ wird mittlerweile für jegliche Produktgruppen ins Feld geführt, sei es nun passend oder nicht. Und das nicht ohne Wirkung!

Wundern wir uns tatsächlich, wenn unser Nachwuchs, der durch Großplakatierung bereits von Anfang an mit diesem (Frauen-)Bild konfrontiert wird, Probleme mit der eigenen Identität und Körperwahrnehmung bekommt, angefeuert durch Genderdiskussionen?

Nicht, dass wir uns falsch verstehen – es geht mir nicht um Personen mit Divergenzen in körperlicher und seelischer sexueller Ausrichtung! Es geht mir um die Art und Weise, in der Diskussionen geführt werden, bei denen man schon ein schlechtes Gewissen bekommt, wenn äußere und innere Sexualität einander entsprechen.

Wenn man aber in der Medienlandschaft schon eine sexuelle Mehrpolarität aufgezwungen bekommt, wird es klar, wenn junge Menschen verunsichert werden, und das nicht nur im Rahmen einer klassischen Pubertät.

Wie oft erlebe ich auch in meinem erweiterten Hobby als Fotograf das gespannte Verhältnis gerade von Frauen zu ihrem Körper, deren Betonung auf vermeintliche Problemzonen und so weiter.

Getrieben durch photoshop-optimierte Hungermodels und mangelnde Medienkompetenz wird das Selbstbild zum Grab der eigenen Wahrnehmung, was interessanterweise trotz geplanter Genderneutralität eher ein weibliches Problem darstellt.

Empörungskultur

Wenn persönliche Courage fehlt, oder man bereits im Delirium der Ignoranz gestrandet ist, dann gibt es wenigstens noch die Empörung, also Zeichen, dass man noch lebt und im Sozialverhalten noch nicht ganz aufgegeben hat.

Und Empörung ist so einfach geworden. Change.org & Co. bieten das virtuelle Steinewerfen, sei es aus Protest oder als moralische Hinrichtung.

Virtuelle Hexenverbrennungen erscheinen humaner, medial weitreichender und doch angenehm anonymer, als es bei der realen Hinrichtung am mittelalterlichen Marktplatz der Fall war, als man noch von Nachbarn in seinem blutigen Voyeurismus erkannt werden konnte.

Nein, jetzt ist es viel schöner, Gewissen erleichtern, sich empören und das auf einfachem Wege per Klick. Absolution vor den Nachkommen, man hat ja etwas getan, man hat sich empört.

Vorteil bei der Empörung ist aber auch, dass man Inhalte nicht hinterfragen muss, Headline lesen, für sich bewerten – Meinungen werden ja schon als Umfrage vorgekaut – und dann mit dem Zeigefinger auf der Maus seine Zustimmung oder Ablehnung geben. Fertig.

(un)soziale Medien

Ich sehe die sogenannten sozialen Medien immer kritischer, genauer den seelen-exhibitionistischen Umgang vieler Mitmenschen mit diesen Plattformen. Zu dem Posing und virtuellen Schaulaufen paart sich zusätzlich eine geringe Medienkompetenz, die sich in manipulierten Wahlen bis hin zu Selbstmorden von Kindern wegen Cybermobbings äußert.

Und hier kommt auch Warhol ins Spiel. Nein, Warhol und das Internet gehören nicht zusammen, auch wenn er dieses Medium vermutlich hervorragend zu nutzen gewusst hätte.

Es geht um seine „15-minutes-of-fame„-Aussage.

1968 erstmals postuliert und 1979 als bestätigt erkannt, hat Andy Warhol mit erschreckender Genauigkeit nicht nur seine eigene Karriere und Popularität charakterisiert, sondern auch gleichzeitig das Verhalten der Menschen bezeichnet.

Dabei konnte er den Einfluss der (un)sozialen Medien noch gar nicht vorhersehen, höchstens die moralische Flexibilität der Boulevardpresse.

Quod erat demonstrandum

Dass ich bereits hier den für mich logischen Beweis für unglückliche Trends und deren Konsequenz in einer Zeitungsmeldung ziehe, heißt nicht, dass ich einen vollständigen Abriss geführt habe.

Was haben wir also? Ein ziemlich erschreckendes Zusammentreffen von Entwicklungen, die letztlich noch gekrönt werden, von einer Empörungskultur, die von wirklichem Protest aber so weit weg ist, wie die Aldilette vom Prada-Highheel.

Wann fangen wir eigentlich wieder an, dem Land der Dichter und Denker Ehre zu machen?

 

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