Wie werde ich nicht wie mein Vater?

Zugegeben – es ist ein eher fiktiver Titel, da ich an meinen Vater nur die besten Erinnerungen habe, was aber möglicherweise nur an der Unkenntnis aller seiner Lebensumstände und seiner Geheimnisse liegt.

Allerdings habe ich schon mehrfach die Titel-Frage gehört, weshalb ich jetzt einmal ein paar Gedankengänge dazu formulieren möchte.

Manchmal findet man in der Familiengeschichte Ereignisse oder Verhaltensweisen der Altvorderen, von denen man sich klar distanzieren möchte. Da stellt sich doch die Frage, wie schafft man es, „nicht wie XY“ zu werden?

Dazu gehören m.E. mehrere Aspekte:

Identifikation eines Fehlverhaltens

Der Blick in die (Familien-) Geschichte legt – gerade auch in Verbindung mit Kriegsgeschehen – manchmal die unglaublichsten Fakten an den Tag, die sofort zu einem inneren Protest führen, seien es die Mitwirkung in politisch fragwürdigen Systemen1, Denunziantentum, Missbrauch von Wirtschaftsmacht2 bis hin zur Verletzung oder gar Tötung von Menschen.

Die aufgeführten Verhalten sind heute auf den ersten Blick zwar klar als moralisch zweifelhaft erkennbar, aber war das für den Protagonisten ebenso?

Die Bewertung von Verhaltensweisen erfordert eine tiefergehende Betrachtung.

Wertung des Verhaltens

Der Mitwirkung in politisch fragwürdigen Systemen muss ich mich persönlich sogar als schuldig bekennen, ich war in meiner Kindheit in der DDR Mitglied der Jungen Pioniere und der FDJ.

Habe ich es damals als Fehlverhalten gesehen? Natürlich nicht! Habe ich damit jemandem geschadet? Ebenfalls nein. Aber es hätte durchaus passieren können! Schon als Kind und Mitglied dieser Organisationen hätte ein Mitwirken an Disziplinierungsmaßnahmen erforderlich werden können, deren Tragweite3 ich höchstwahrscheinlich nicht ermessen hätte können. Ich habe Glück gehabt.

Kollaboration mit Staatsorganen war gerade auch in der DDR ein gar nicht so seltenes Verhalten, was heute schnell auf Unverständnis stößt. StaSi-Spitzel, IM4 sind da die typischen Stichwörter. Aber war das wirklich so einfach?

Nach der Wende wurden die Lehrer meiner Schule auf Tätigkeiten im Ministerium für Sicherheit überprüft, IM’s wurden „aus dem Schuldienst entfernt“. Das klang so lange richtig, so lange es unbeliebte Lehrer betraf. Aber es traf auch einen von mir sehr verehrten Lehrer, der plötzlich nicht mehr unterrichten durfte. Sein Name fand sich als IM in den aufgefundenen Unterlagen des MfS. Was nicht dabei stand, waren die erpresserischen Methoden, mit denen er „rekrutiert“ wurde. Sein Beruf wäre plötzlich nicht mehr möglich gewesen, wenn er nicht unterschrieben hätte. Als Druckmittel diente der Bruder des Lehrers, der in den Westen geflohen war.

Von Geschichten wie diesen gibt es durchaus viele. Manche sind wahr, manche erlogen, manche Rechtfertigung vor dem eigenen Gewissen.

(Fehl-) Verhalten muss also im Kontext des Protagonisten gesehen werden.

Die Nürnberger Prozesse haben die „Ausrede“ als „Mitläufer“ und „unwissenden Bürokraten“ in ihrer Perversion aufgezeigt. Und ich bin mir sicher, für manche Täter war es nicht nur eine Schutzbehauptung. Sie haben sich tatsächlich als Teil einer Bürokratie gesehen und gefühlt, in deren Umfeld sie ihre Dienste abgeleistet hatten, zum Schaden von Millionen Menschen.

Ähnlich sind m.E. auch die aktuellen Verhaltensweisen von Topmanagern in der Automobilindustrie, den Cum-Ex-Bankern oder bei WireCard zu sehen, die im Rahmen von Erfolgsdruck7 vermitteln vermutlich ebenso eine Prägung und Erwartungshaltung, wie Ärztefamilien, Juristen oder Theologen im protestantischen Umfeld.

Will ich mich also nicht verhalten, wie die Ahnen, muss ich mich von der Prägung der Familie distanzieren, was mindestens schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist.

Ein sehr interessanter Aspekt ist im Übrigen die Existenz von Familiengeheimnissen, die in einem Podcast sehr eindrücklich dargestellt wurden.

Prägung der Gesellschaftsschicht

Zwar haben wir keine derart offensichtlichen Gesellschaftsschichten, wie das indische Kastenwesen – eingebunden sind wir aber doch in unsichtbare Kasten, wie Akademiker, (Geld-) Adel, Landwirte, Proletarier usw.

Auch hier gibt es Prägungen, Präferenzen und auch Dünkel, die unser Verhalten beeinflussen. Das Herauslösen aus „schichttypischen“ Denkstrukturen ist vermutlich etwas einfacher, als familiäre Prägungen aufzugeben, aber immer noch schwer genug.

Religiöse Prägung

Für einen Menschen des Mittelalters war es nicht verwerflich, Hexen zu denunzieren oder gar anzuzünden. Ebenso war und ist Antisemitismus für Viele sogar bis in die Jetztzeit kein echter moralischer Widerspruch, ebensowenig wie für einige Muslime das Selbstmordattentat.

Uns prägen auch die Religionen, mit denen wir aufgewachsen sind. Dabei müssen wir sie nicht einmal (mehr) praktizieren. Horrorbilder eines Hieronymus Bosch haben im gemeinschaftlichen Denken ebenso ihre Prägung hinterlassen, wie die Kriegsbilder aus dem Zweiten Weltkrieg, Vietnam, dem ehemaligen Jugoslawien usw.

Persönliche Präferenzen

Hat man die Ursachen von Verhalten der Altvorderen identifiziert, deren gesellschaftliche Einflüsse erkannt, auf die eigene Umwelt adaptiert als Faktor für sich eliminiert, bleiben auch noch die persönlichen Präferenzen, die abgeglichen und gegebenenfalls angepasst werden müssen.

Fazit

Was ist es nun, was uns bewegt, nicht zu werden, wie unsere Ahnen? Liegt es an einem geänderten Weltbild, neuen moralischen Sichtweisen oder dem Ablehnen der Handlungsmotivationen unserer Vorfahren, was die Titelfrage aufwirft?

Ich vermute es ist die Summe aller Aspekte. Sich aller Einzelnen klar zu werden, ist das Eine, sie an die Jetztzeit zu adaptieren ein zweiter Schritt, von unseren Nachkommen aber als definitiv „besserer Mensch“ gesehen zu werden, lediglich ein berechtigter Wunsch.

Wichtig wäre, seine eigenen Verhaltensweisen regelmäßig zu überprüfen und auf moralische Fallstricke zu untersuchen.

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