a number of owls are sitting on a wire

Heilige Haine – Rückzugsort für die Neuzeit?

Vom sakralen Hain zur Akustikkabine – eine Reise durch Raum, Zeit und Reizüberflutung

Die Wurzeln des Heiligen Hains

Schon die alten Römer und Griechen kannten sie: Heilige Haine, abgeschiedene Wälder oder Baumgruppen, die als Wohnsitz der Götter galten. Man betrat sie nicht unbedacht – nicht nur aus Respekt vor dem Übernatürlichen, sondern auch aus Angst vor möglichen Strafen.

Der Begriff „Hain“ (von althochdeutsch hagan, Umzäunung) weist bereits darauf hin: Es ging um einen geschützten Raum, eine Grenze zwischen profaner Welt und spirituellem Rückzugsort.

Was damals religiös war, ist heute neurobiologisch. Denn was ist der moderne Mensch anderes als ein reizüberflutetes Wesen, das händeringend nach stillen Orten sucht?

Die Reizüberflutung der Neuzeit

Die alten Priester schützten ihre Haine vor unbedarften Besuchern – wir hingegen lassen jeden Werbespot, jede Push-Benachrichtigung und jedes Meeting-Invite ungefiltert auf uns einprasseln.

Das Ergebnis: eine Dauerbeschallung, die unser Nervensystem permanent im Alarmzustand hält. Während der römische Philosoph Seneca noch von der „edlen Stille der Natur“ sprach, knallen uns heute in Großraumbüros die Gespräche der Kollegen um die Ohren, unterbrochen von piependen E-Mails und dem dezenten Surren der Klimaanlage.

Die Lösung? Heilige Haine für das 21. Jahrhundert!

Von der Großraumhölle zur Akustikkabine

Da die wenigsten Arbeitgeber bereit sind, ihre Belegschaft in einen abgeschiedenen Wald zu versetzen, hat sich die moderne Architektur etwas ausgedacht: die Akustikkabine.

Diese kleinen, oft gläsernen Kapseln inmitten des Großraumbüros sind der letzte verzweifelte Versuch, eine Rückzugsmöglichkeit zu schaffen. Doch statt heiliger Bäume umgibt einen hier oft nur Sperrholz, Filzgeruch und eine schlechte Lüftung.

Der Vergleich hinkt? Vielleicht. Doch der Grundgedanke bleibt derselbe: Es geht um Schutz, um eine Umgebung, die Lärm und Ablenkung draußen hält – ein Konzept, das gerade für neurodivergente Menschen essenziell ist.

Geschützte Räume für neurodivergente Menschen

Menschen mit ADHS, Autismus oder Hochsensibilität empfinden Reizüberflutung noch intensiver. Für sie ist der Rückzug aus einer chaotischen Umgebung keine Luxusentscheidung, sondern ein Überlebensmechanismus.

Während die Antike ihre Haine durch religiöse Tabus sicherte, müssen sich moderne Betroffene ihre Schutzräume oft mühsam erkämpfen – sei es durch Noise-Cancelling-Kopfhörer oder durch das Suchen von Orten, an denen das Gehirn endlich einmal zur Ruhe kommt.

Doch wo findet man solche modernen Haine?

Japan: Zwischen Bambuszauber und dunklen Schatten

Japan ist ein Land, das die Idee des Heiligen Hains auf zwei sehr unterschiedliche Weisen bewahrt hat. Einerseits gibt es dort die berühmten Bambushaine, etwa in Arashiyama bei Kyoto.

Ein Spaziergang durch diese meterhohen, sanft rauschenden Stängel gleicht einer Meditation. Die Welt bleibt draußen, und das leise Knacken der Bambushalme wird zur akustischen Reinigung.

Doch es gibt auch eine düstere Seite: den Aokigahara-Wald, oft als „Selbstmord-Hain“ bezeichnet. Diese dichte, fast unwirkliche Landschaft am Fuße des Fuji ist bekannt für die vielen Menschen, die dort ihrem Leben ein Ende setzen.

Ein trauriges, aber deutliches Beispiel dafür, wie mächtig abgeschiedene Orte auf die menschliche Psyche wirken können – sowohl heilsam als auch zerstörerisch.

Fazit: Brauchen wir eine Renaissance der Heiligen Haine?

Die hektische Moderne zwingt uns dazu, immer neue Rückzugsorte zu erfinden – sei es die Akustikkabine, der meditative Spaziergang im Bambushain oder schlicht der Versuch, eine Stunde lang das Smartphone wegzulegen.

Vielleicht sollten wir uns ein Beispiel an den alten Kulturen nehmen: Statt nur nach temporären Fluchtorten zu suchen, könnten wir Räume schaffen, die dauerhaft der Ruhe gewidmet sind.

Ob das nun ein geschützter Wald, ein „Silent Space“ im Büro oder einfach das bewusste Abschalten von Ablenkungen ist – der Heilige Hain der Neuzeit liegt vielleicht näher, als wir denken.

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