Neurodivergenz – allein das Wort klingt schon nach einem intergalaktischen Fremdkörper im gesellschaftlichen Massensystem. Dabei beschreibt es lediglich Menschen, die das Gehirn so benutzen, dass es nicht der Norm entspricht. Und hier beginnt der Spaß (also für Außenstehende eher das Unbehagen): Wer anders denkt, fühlt oder handelt, kratzt an den Selbstverständlichkeiten der Mehrheit. Und das macht Angst. Offenbar ist der Gedanke, dass die Welt ein bisschen vielfältiger, ein bisschen chaotischer und ein bisschen kreativer sein könnte, schwer auszuhalten.
Denken um Ecken – oder wo andere ein Defizit sehen
Man könnte sagen: Neurodivergente haben das Talent, nicht in geraden Linien, sondern in geschwungenen Kurven zu denken. Genial, oder? Für viele Neurotypische dann doch eher ein „Oh Gott, was stimmt mit dem nicht?“. Während die Mehrheit sich in vertrauten Gedankensprints wohlfühlt, hantieren Neurodivergente mit Ideen, die aussehen wie ein Labyrinth aus möglichen Antworten. Kreativität entsteht am Rand dieser Ecken – gleichzeitig wirkt es auf Außenstehende wie ein Mangel. Als würde ein Mensch, der Muster anders erkennt, sofort einen Defekt verraten. Genialität? Fehlanzeige. Das Etikett „Problem“ klebt schneller, als man „Innovation“ buchstabieren kann. Herrlich, nicht?
Das Chaos im Kopf – unübersichtlich, aber funktional
Ein weiterer Quell der Verunsicherung: Das Chaos. In neurodivergenten Köpfen herrschen Strukturen, deren Logik nur der Besitzer selbst versteht. Für Außenstehende sieht das aus wie eine wilde Mischung aus zu vielen Tabs im Browser, von denen sich nie einer schließt. Doch dort, wo die Norm ratlos aufgibt, liegt für den Neurodivergenten oft eine hochfunktionale Ordnung. Blöd nur, dass dieses private Ordnungssystem für andere so beängstigend wirkt wie das Betreten einer Werkstatt voller Kabel und blinkender Lichter. Man denkt: Explodiert das Ding gleich? Nein, es funktioniert – nur nicht fürs Auge der Mehrheit.
Der Botschafter als Sündenbock
Statt diese andere Logik zu begreifen, wird der neurodivergente Mensch selbst zum Problem deklariert. Wie praktisch! Da steht einer, der anders tickt, und schon wird er zur Projektionsfläche gemeinschaftlicher Unsicherheit. Reflexion? Fehlanzeige. Diskurs? Ach was, viel zu anstrengend. Wozu über unangepasste Denkmuster nachdenken, wenn man die unbequeme Perspektive doch einfach in die Ecke stellen kann: „Du bist schuld an der Irritation, nicht unser Tunnelblick.“ So wird der Botschafter selbst zum Sündenbock – und die eigentliche Botschaft bleibt schön unsichtbar.
Empathie, die niemand glaubt
Ein weiterer Klassiker: Neurodivergente Empathie. Manche bringen eine Sensibilität mit, die tief und unverstellt wirkt. Doch statt sie zu begrüßen, tritt sofort ein Abwehrreflex ein: „So gut kann doch niemand sein.“ Oder: „Ohne Hintergedanken? Das geht gar nicht.“ Das Misstrauen sitzt so tief, dass echte Güte ins Reich manipulativer Verdächtigungen verbannt wird. Es scheint, als sei unser Gesellschaftsvertrag darauf festgelegt, dass ehrliche Mitmenschlichkeit grundsätzlich verdächtig bleibt. Wer zu freundlich ist, muss wohl einen Haken haben. Ausgerechnet hier trifft die neurodivergente Stärke auf den neurotypischen Zweifel – und der reagiert mit Abwertung.
Unangepasstheit und Kreativität – suspekt per se
„Unangepasstheit“, „abweichendes Verhalten“, „Eigenwilligkeit“: Begriffe, die in Stellenanzeigen natürlich als gewünschte „Kompetenzen“ beschworen werden, in der Realität aber schnell für Stirnrunzeln sorgen. Denn wer der Gesellschaft zu sehr aus der Reihe tanzt, gilt nicht als inspirierend, sondern als störend. Neurodivergente Kreativität ist also ein zweischneidiges Schwert: Sie bringt Innovation hervor, wird jedoch gleichzeitig als Gefahr für die Ordnung verstanden. Wer Anomalien lebt, ist verdächtig – da könnte ja jeder kommen, und zack, schon wäre die Gesellschaft kein gemütlicher Wohlfühlklub der Gleichschaltung mehr.
Empfindsamkeit – schnell abgetan
Empfindsame Wahrnehmung, detailreiches Fühlen und ein Sensorium, das auf Kleinigkeiten reagiert: Für neurodivergente Menschen oft Normalität. Für die Mehrheit aber nicht selten ein Grund für Spott. Statt die Fähigkeit zu erkennen, wird die Sensibilität lapidar als „Weicheiromantik“ abgeschrieben. Man könnte fast meinen, dass wir kollektiv eine Angst vor Tiefe entwickelt haben – die Oberfläche reicht völlig, solange sie bequem bleibt. Neurodivergente, die darauf hinweisen, dass mehr darunter liegt, werden ausgelacht. Denn fühlen ist gefährlich. Oder zumindest unbequem. Und was unbequem ist, muss pathologisiert oder lächerlich gemacht werden. Praktisch für ein System, das lieber seine Ruhe haben will.
Vielseitigkeit – als Klugscheißerei abgestempelt
Besonders verdächtig wird es, wenn neurodivergente Menschen eine große Bandbreite an Interessen und Fähigkeiten zeigen. Wer sich mit zu vielen Dingen beschäftigt, wirkt in den Augen der Mehrheit wie ein Schwätzer, der unbequemerweise zu viel weiß. Denn das gesellschaftliche Skript lautet: Man hat bitte ein Fachgebiet und bleibt dort still sitzen. Wer sich widersetzt und mehrere Disziplinen jongliert, wird schnell als „Besserwisser“ oder „Klugscheißer“ abgetan. Die Vorstellung, dass ein Mensch einfach wirklich vielseitig sein könnte, scheint schwer erträglich. Viel eher wird das als Angriff gewertet: „So viel Wissen kann keiner haben – also muss es Übertreibung sein!“ Am Ende wird nicht die Leistung anerkannt, sondern die bloße Existenz dieser Vielseitigkeit diskreditiert. Womit? Natürlich mit Spott – das gesellschaftlich bewährte Schmiermittel, um Unterschiede kleinzuhalten.
Das kollektive Abwehrsystem
Die kollektive Dynamik ist dabei nur allzu durchschaubar. Gesellschaften lieben den Standard, weil er Orientierung gibt. Wer davon abweicht, aktiviert Abwehrreflexe. Bereits Carl Gustav Jung beschäftigte sich mit genau dieser Dynamik: Im kollektiven Unbewussten, so Jung, werden jene Muster verdrängt, die das Selbstbild „stören“ könnten. Er sprach vom „Schatten“, jenen verdrängten Anteilen, die in der Projektion auf andere sichtbar werden. Neurodivergente Menschen fungieren ungewollt als Spiegel – sie erinnern die Mehrheit an Möglichkeiten und Seiten, die lieber ignoriert werden. Genau hier liegt der Kern: Anstatt diese Erfahrung als Einladung zur Selbstreflexion zu begreifen, reagiert das Kollektiv mit Abwertung, Distanzierung und Ausgrenzung. Denn: Wer den Spiegel nicht erträgt, beschimpft lieber das Spiegelbild.
Fazit: Angst als Ritual
Und so bleibt der Kreislauf perfekt: Neurodivergenz wird als merkwürdig, chaotisch oder unerträglich gedeutet – weil sie etwas sichtbar macht, das die Gesellschaft nicht sehen will. Die Angst ist kein Zufall, sondern ein Ritual: Immer schön den Außenseiter markieren, damit das fragile Selbstbild der Mehrheit stabil bleibt. Klingt sarkastisch? Ist es auch. Aber es ist eben auch die nüchterne Diagnose eines Systems, das lieber unterhält, statt versteht. Der Abweichler wird zum Problem erklärt, weil sich damit die Masse nicht selbst befragen muss.
Neurodivergenz ist kein Makel, sondern eine andere Art, Welt zu denken und zu fühlen. Angst macht dabei nicht die Abweichung selbst – sondern die Ahnung, dass diese Abweichung vielleicht allzu dringend fehlt.
Super Artikel, lieber Andy. Besser kann man es nicht beschreiben.
Das wäre mal ein Buch wert!