a number of owls are sitting on a wire

Hundertwasser im Jetzt: Natur, Mensch und Technologie

Friedensreich Hundertwasser war nicht nur Künstler und Architekt, sondern auch Visionär einer menschengerechten, naturverbundenen Gestaltung unserer Umwelt. Seine farbenfrohen, unregelmäßigen Bauten stehen im radikalen Kontrast zur funktionalistischen Ästhetik der Moderne – und zur technokratischen Uniformität unserer digitalen Gegenwart. Was bleibt von Hundertwassers Ideen heute? Wo sind seine Gedanken im technologischen Zeitalter zu spüren – oder bleiben sie außen vor?

Architektur als Farce: Der Aufstand gegen das Raster

Hundertwasser sprach davon, dass die „gerade Linie gottlos“ sei – eine Formulierung, die in ihren zahlreichen Varianten häufig zitiert wird. Sein Originalzitat lautet: „Die gerade Linie ist eine gottlose Linie, eine Linie ohne Seele.“ Für ihn war die gerade Linie Symbol der Entfremdung, des Funktionalismus, der einem rationalistischen Weltbild unterliegt. Architektur, so Hundertwasser, war zur Farce geworden – sie bediene sich der Formen der Industrie und vergesse dabei den Menschen.

In einer Welt, die auf Effizienz und Optimierung getrimmt ist, verlieren Ästhetik, Individualität und organische Formen ihren Platz. Diese Kritik trifft nicht nur auf die gebaute Umwelt zu, sondern auch auf das Design von Technologie, Interfaces und digitalen Produkten.

Die Uniformität der Moderne: Preis und Aufpreis

Uniformität, so ließe sich sagen, ist der Preis der industriellen Moderne. Alles wird vergleichbar, skalierbar, standardisiert. Fenstergrößen, Benutzeroberflächen, Wohnräume – das Maß ist der Durchschnitt. Wer Individualität will, zahlt einen „Aufpreis für Ästhetik“. Maßanfertigung, Designobjekte, maßgeschneiderte Softwarelösungen: Sie stehen nicht für alle zur Verfügung, sondern sind Luxusgüter geworden.

Doch dieser Aufpreis hat nicht nur kulturelle oder emotionale, sondern auch wirtschaftliche Implikationen. Er bedeutet, dass Gewinnmaximierung durch Standardisierung eingeschränkt wird – denn Ästhetik, Handarbeit, Individualität benötigen Zeit, Aufmerksamkeit und Ressourcen. Damit stellt sich die Frage: Wollen wir ein Wirtschaftssystem, das alles dem Prinzip der Effizienz unterordnet, oder eines, das Lebensqualität höher bewertet?

Langfristig kann der „Aufpreis für Ästhetik“ auch eine positive volkswirtschaftliche Wirkung entfalten. Indem mehr Menschen und kleinere Akteure in Gestaltungs- und Produktionsprozesse eingebunden werden, wird die Geldzirkulation breiter verteilt. Konzentrationen von Kapital, wie sie durch Massenproduktion und Monopolstrukturen entstehen, könnten so aufgebrochen werden. Investitionen in Schönheit und Vielfalt fördern regionale Wertschöpfung, lokale Handwerksbetriebe und kreative Dienstleistungen – kurz: Sie schaffen ökonomische Diversität.

Hundertwasser hätte das vermutlich begrüßt. Denn für ihn war Gestaltung immer auch eine Frage der Gerechtigkeit – ästhetisch, sozial, ökologisch. Der Widerstand gegen die Uniformität ist damit nicht nur ein kultureller Akt, sondern auch ein ökonomischer.

Raum für Menschen: Der Anspruch des Organischen

Hundertwasser forderte den „Fensterrecht“ – das Recht des Menschen, seine Umgebung mitzugestalten, sich kreativ auszudrücken. Er sah Architektur als Lebensraum, nicht als Maschine. Dieser Anspruch fehlt vielen digitalen Produkten. Auch sie sind standardisiert, funktional, konform. Sie orientieren sich am „User Flow“, nicht an der Vielfalt menschlicher Bedürfnisse.

Doch es gibt Ausnahmen. Im Produktdesign, im UX/UI-Bereich oder in der Architekturbiologie finden sich Spuren eines organischen Denkens. Die Gestaltung von Räumen und Interfaces, die sich an natürlichen Prozessen und Formen orientieren, schafft nicht nur ästhetischen Mehrwert, sondern wirkt auch psychologisch wohltuender.

Technologie trifft Hundertwasser: Vision oder Widerspruch?

Wo bleibt Hundertwasser in der Technologie? Diese Frage lässt sich auf mehreren Ebenen stellen: Einerseits im Design technischer Geräte und Interfaces. Andererseits aber auch im gesellschaftlichen Umgang mit Technologie – ihrer Integration in den Alltag, ihrer Rolle für das gute Leben.

Hundertwasser hätte vermutlich die glatten Oberflächen, monochromen Interfaces und rationalisierte Bedienlogik moderner Technologie als seelenlos kritisiert. Die Rückkehr zu organischen Formen – in der Gestaltung wie in der Funktion – wäre in seinem Sinne. Doch diese Perspektive wird selten mit Technologie verbunden. Zu tief sitzen die Paradigmen der Effizienz, der Skalierbarkeit, der Steuerbarkeit.

Organisches Design in der digitalen Welt

Organisches Design ist kein Widerspruch zur Technik – im Gegenteil. Es lässt sich als Brückenschlag verstehen: zwischen Mensch und Maschine, zwischen Natur und künstlicher Welt. Es fordert Gestalterinnen und Entwickler heraus, Produkte zu entwerfen, die nicht nur funktionieren, sondern berühren. Die nicht nur effizient, sondern sinnlich sind.

Biomorphe Formen, natürliche Materialien, lebendige Farben – all das findet auch in der digitalen Sphäre Anwendung. In der Architektur zeigt sich das in der biophilen Gestaltung. In der Technik etwa im Human-Centered Design oder Calm Technology. Es geht um eine Technologie, die sich in den Hintergrund zurückzieht, statt den Menschen zu dominieren. Um Produkte, die sich an uns anpassen – nicht umgekehrt.

Fazit: Mehr Hundertwasser wagen

Wir brauchen mehr Hundertwasser – in der Architektur, in der Technik, im Denken. Nicht als Stilkopie, sondern als Haltung. Als Mut, dem organischen, dem unregelmäßigen, dem menschlichen Raum zu geben. Die „gerade Linie“ mag effizient sein, doch sie allein schafft keine Welt, in der wir gerne leben.

Der „Aufpreis für Ästhetik“ ist letztlich ein Aufpreis für Lebensqualität – und auch ein Beitrag zu einer gerechteren Wirtschaft. In einer Welt, die von Standards und Uniformität geprägt ist, wird Individualität zur kostbaren Ressource. Wenn wir bereit sind, für Gestaltung mehr zu investieren, investieren wir auch in soziale Teilhabe, lokale Wirtschaftskreisläufe und eine breitere Verteilung von Wertschöpfung.

Vielleicht ist jetzt der richtige Moment, den Preis der Uniformität zu überdenken – und den Wert der Ästhetik neu zu entdecken.

Kommentar verfassen

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..