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Neurodiversität – Grund, keine Entschuldigung

Neurodiversität ist in den letzten Jahren zu einem festen Begriff in der öffentlichen Debatte geworden. Kaum ein Bereich der Gesellschaft bleibt davon unberührt: Schulen, Unternehmen, Medien und Wissenschaft beschäftigen sich zunehmend mit den unterschiedlichen Formen menschlicher Wahrnehmung, Informationsverarbeitung und Verhaltensweisen. Doch so bereichernd die Perspektive der Neurodiversität sein kann, so groß ist auch die Gefahr der Missinterpretation und Vereinfachung. Dieser Artikel zeigt, warum sich hinter dem Schlagwort mehr verbirgt als ein Modebegriff und weshalb Neurodiversität ein Grund zur Reflexion ist – jedoch keine Entschuldigung.

Neurodiversität: Begriff mit offenem Spielraum

Der Begriff wurde erstmals von der australischen Soziologin Judy Singer Ende der 1990er Jahre geprägt. Ihr Ansatz war, neurologische Unterschiede nicht länger ausschließlich als Defizite zu werten, sondern als Teil menschlicher Vielfalt zu begreifen. Dazu gehören unter anderem Autismus, ADHS, Legasthenie, Dyspraxie oder Tourette-Syndrom. Doch genau hierin liegt die erste Ambivalenz: „Neurodiversität“ bezeichnet keine klar umrissene Diagnose, sondern ein breites Spektrum individueller Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen. Diese offene Definition führt dazu, dass die Einordnung im Alltag enorm variabel ist – oft sogar willkürlich.

Experten, selbsternannte Experten und Fremdurteile

Mit der wachsenden Aufmerksamkeit ist eine regelrechte Flut an Stimmen entstanden, die sich als Experten inszenieren. Psychologen, Coaches, Blogger oder Social-Media-Influencer geben oftmals weitreichende Ratschläge, urteilen über Medikamente, Ernährung, Therapiemethoden oder Arbeitsplatzgestaltung. Das Problem: Viele dieser Meinungen basieren nicht auf fundierter wissenschaftlicher Expertise, sondern auf Einzelbeobachtungen, Überzeugungen oder schlicht auf Marketinginteressen. Für Betroffene kann dies belastend sein – denn die vermeintliche „Beratung“ ist oft ein Übergriff in höchst individuelle Lebenssituationen.

Erschwerend kommt hinzu, dass Fremdurteile leicht mit gesellschaftlichen Normvorstellungen kollidieren. Wo Konzentrationsschwierigkeiten, Hyperfokus oder soziale Unsicherheiten auftreten, werden diese von außen schnell bewertet – meist ohne Kenntnis der persönlichen Hintergründe. Der Anspruch, über Medikamente wie Ritalin oder Verhaltenstherapien von außen urteilen zu wollen, offenbart dabei weniger Fachkompetenz als eine anmaßende Haltung. Neurodiversität wird so in einen Diskurs gezwängt, in dem entweder Defizite oder vermeintliche kreative Vorteile im Vordergrund stehen.

Cherry-Picking und die Romantisierung des Chaos

Ein besonders verbreiteter Mechanismus in der Diskussion über Neurodiversität ist das selektive Herausgreifen einzelner Eigenschaften. Kreativität, hohe Detailgenauigkeit oder „out-of-the-box“-Denken werden in diesem Kontext gerne hervorgehoben. Solche Beispiele dienen als Beleg, dass Neurodivergenz wertvolle Talente hervorbringen kann. Gleichzeitig wird das „Chaos“, das für viele Betroffene ebenso zur Realität gehört – innere Unruhe, Überreizung, Konflikte im sozialen Miteinander – entweder verharmlost oder komplett ausgeblendet.

Diese Form des Cherry-Pickings führt zu einer verzerrten gesellschaftlichen Wahrnehmung. Neurodiverse Menschen erscheinen dadurch entweder als „Genies“ oder als „Problemfälle“. Die komplexe Realität, in der sich Stärken und Schwächen mischen, geht verloren. Neurodiversität lässt sich aber nicht in simplen Schlagwörtern wie „kreativ“ oder „chaotisch“ fassen. Sie bedeutet vielmehr eine hochkomplexe und individuelle Erfahrungswelt.

Die Illusion von „der“ Neurodiversität

Eine zentrale Fehlannahme besteht darin, Neurodiversität als ein einheitliches Phänomen zu betrachten. Es gibt eben nicht die Neurodiversität. Stattdessen existiert eine Vielzahl neuronaler Konstellationen, die sich massiv voneinander unterscheiden können. Zwei Menschen, die beide formal die gleiche Diagnose tragen, erleben ihre Situation oft vollkommen unterschiedlich. Während der eine seine ADHS-Ausprägung als beflügelnd erlebt, ringt der andere täglich mit Selbstorganisation, Schlafrhythmus oder sozialen Interaktionen.

Diese hochindividuelle Dynamik macht es nahezu unmöglich, von außen allgemeine Urteile zu fällen. Selbst nahe Angehörige können oft nur erahnen, wie sich bestimmte Situationen innerlich anfühlen. Wer in solchen Fällen mit schnellen Ratschlägen oder vorschnellen Klassifikationen reagiert, greift ins Leere – oder schlimmer noch, verletzt die betroffene Person.

Außensicht: Unverständnis und Überforderung

Von außen betrachtet entstehen Missverständnisse beinahe zwangsläufig. Denn viele neurodiverse Besonderheiten sind nicht auf den ersten Blick sichtbar. Während ein körperliches Handicap leichter eingeordnet werden kann, bleibt Neurodivergenz oft verborgen oder wird missinterpretiert. Das führt zu Spannungen im Alltag, am Arbeitsplatz oder in schulischen Kontexten.

Verhalten, das von neurotypischen Erwartungen abweicht, wirkt auf andere womöglich unhöflich, anstrengend oder chaotisch. Hier entsteht ein Dilemma: Das Unverständnis ist einerseits nachvollziehbar, andererseits darf es nicht in übergriffige Bewertungen münden. Eine respektvolle Haltung bedeutet, anerkennen zu können, dass man die innere Perspektive des anderen niemals vollständig nachvollziehen wird.

Innensicht: Zwischen Belastung und Ressource

Für Betroffene selbst ist die Wahrnehmung wiederum stark abhängig von individuellen Ausprägungen, Persönlichkeitsmerkmalen und Lebenssituationen. Was in einem Kontext eine Stärke ist, kann in einem anderen zur Belastung werden. Ein Beispiel: Der Hyperfokus, der einem Ingenieur hilft, sich stundenlang konzentriert in komplexe Systeme zu vertiefen, sorgt im Privatleben womöglich für Konflikte, weil soziale Signale übersehen werden.

Auch äußere Umstände wie ein unterstützendes Umfeld, ein passender Job oder gesellschaftliche Akzeptanz prägen, ob Neurodiversität als Ressource oder als stetige Hürde empfunden wird. Jemand, der in einer Umgebung lebt, die individuelle Unterschiede wertschätzt, wird seine Fähigkeit anders einschätzen als eine Person, die durchweg mit Missverständnissen und Kritik konfrontiert ist.

Neurodivergenz bei Kindern: zwischen Förderung und Ausrede

Besonders deutlich zeigt sich die Ambivalenz bei Kindern. Einerseits ist es wichtig, ihre Besonderheiten zu erkennen und entsprechend zu begleiten. Andererseits wird Neurodivergenz häufig als Erklärung oder gar als Entschuldigung für jedes auffällige Verhalten angeführt – sowohl von den Kindern selbst als auch von Eltern und Pädagogen. Dies mag kurzfristig Konflikte entschärfen, führt langfristig aber zu einem Problem: Die gesellschaftliche Akzeptanz „abweichender“ Verhaltensweisen sinkt mit zunehmendem Alter.

Ein Kind, das nicht stillsitzen kann, mag in der Grundschule noch Verständnis erfahren. Ein Erwachsener, der im Meeting ständig dazwischenruft oder Termine nicht einhält, stößt dagegen schnell auf Ablehnung. Das bedeutet: Eine wirksame Förderung muss Kinder nicht nur im Hier und Jetzt unterstützen, sondern sie auch befähigen, langfristig mit gesellschaftlichen Erwartungen umzugehen – ohne dass dabei ihre Eigenheiten verleugnet werden.

Neurodiversität: Grund, keine Entschuldigung

Der entscheidende Punkt lautet: Neurodiversität ist ein Erklärungsansatz, aber sie ist keine Entschuldigung. Auch wenn neurologische Besonderheiten die Grundlage für bestimmtes Verhalten bilden, entbindet dies niemanden auf Dauer von Verantwortung. Es mag gerechtfertigt sein, bei Kindern mehr Verständnis und Unterstützung einzufordern. Bei Erwachsenen jedoch wächst der Anspruch an Eigenverantwortung, an Selbstreflexion und an die Fähigkeit, mit den eigenen Herausforderungen zu arbeiten.

Das bedeutet nicht, dass neurodiverse Menschen ihre Eigenheiten „wegtherapieren“ müssten. Es bedeutet vielmehr, dass Gesellschaft und Individuum gemeinsam Wege finden müssen, mit Unterschieden verantwortlich umzugehen. Neurodiversität ist eine wichtige Brille, durch die Vielfalt sichtbarer wird. Doch sie darf nicht zur Universal-Ausrede für alle Schwierigkeiten stilisiert werden.

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