Wie ich schon einmal erwähnt habe, ist eines meiner Morgenrituale auf dem Weg ins Büro das Hören von Podcasts, so u.a. auch von hr-iNFO der Podcast Wissen. Ein besonders interessanter, nachdenkenswerter Beitrag kam von Prof. Harald Lesch. Seine Fragestellung: „Ist Wissenschaft die neue Religion?“ treibt mich schon etwas länger um, wenn ich auch leider nicht auf diesen treffenden Titel gekommen bin.
Nun bin ich Ingenieur und sehe die Naturwissenschaften aus der Sicht der Anwendung, weshalb meine Gedankengänge sich bisher primär auf Technikgläubigkeit sowie wirtschaftliche Aspekte1 bezogen haben, Prof. Lesch hat durch seine akademische Sichtweise meinen Blick in Richtung der forschenden Wissenschaften erweitert. Der Beitrag hat somit mein Bild von der Welt „etwas runder“ gemacht.
So ergibt sich im Moment für mich folgendes Bild:
Ausgehend von diesem Bild könnte man eigentlich wieder von einer Trinität ausgehen – drei Aspekte analog der christlichen Dreifaltigkeit.
Der Konsument als Gläubiger steht im Spannungsfeld zwischen der Forschung, wie sie Prof. Lesch beleuchtet hat, der Anwendung2 und dem Marketing, was letztlich in meinen Augen den größten Einfluss auf das Glaubensbild hat.
Die Einflüsse aus Forschung, Anwendung und Marketing haben schon ein immenses Gewicht und es wird immer wichtiger, die Verantwortung dieser Einflussfaktoren zu erkennen und in Handlungsweisungen – also Moral – umzumünzen.
Forschung
Im Bereich der Forschung sind erste Ansätze durchaus erkennbar. So werden schließlich immer öfter Thesen, Theorien, aber auch Studien intensiv auf den Prüfstein gelegt und auch die Veröffentlichungspraxis in Richtung Open Science und Open Access getrieben.
Anwendung
Jetzt wäre es auch an der Zeit für die Anwendung, der Ethik Rechnung zu tragen und moralische Handlungsweisen an den Tag zu legen. Dass das kein Minusgeschäft sein muss, zeigt eigentlich auch mein Beitrag „To do or not to do„. Die Berücksichtigung von möglichst allumfänglichen Aspekten des Handelns im Sinne von Opportunitätskosten zeigt, dass ein Nicht-Tun, ein Nicht-in-Verkehrbringen eines Gegenstandes oder einer Dienstleistung auch einen Gewinn darstellen kann.
Prof. Lesch zeigt in seinem Beitrag die Diskrepanz zwischen der menschlich umsetzbaren und technisch realisierbaren Geschwindigkeit von Informationen auf. Wäre es nicht ein interessanter, ethischer Grundsatz, eine technische Obergrenze für Geschwindigkeiten und auch den Automatisierungsgrad festzulegen?
Marketing
Bleibt zum Schluss nur noch die Betrachtung des Marketings. Und hier wird es meines Erachtens schwierig, da das Verkaufen von Illusionen – und damit „Glauben“ – zur Kernaufgabe des Marketings gehört.
Ebenso wie in der Industrie wird im Marketing immer stärker auf Automatisierung gesetzt. Die Streuung von Informationen durch Bots sind mittlerweile typische Anwendungsfälle in diesem Medium. Gefährlich wird dieser Trend, weil technisch nicht mehr ausgeschlossen werden kann, dass sich diese Verfahren verselbständigen und keinerlei ethischen Regularien sich unterwerfen.
Welche Stellschrauben könnten hier zu einem moralischen Handeln bewegen? Selbstkontrolle funktioniert leider nicht. Scharf überwachte gesetzliche Regelungen müssten her, die aber auch schnell als Zensur missverstanden werden könne. Ein echtes Dilemma.
Markt
Falls jemand jetzt einwirft, ich hätte den Markt ansich vergessen – also das Bankenwesen, Versicherungen und Aktienhandel, so sei gesagt, ich sehe sie in der Anwendung verortet, wird doch letztlich auch mit Gütern agiert.
Konsument
Es bleibt wohl letztendlich am Konsumenten hängen, wie er mit den Einflüssen der drei „Götter“ umgeht. Und hier hätten wir sogar eine Stellschraube. Wissen!
Eine gute (Aus-) Bildung könnte der Schlüssel zu einem vernünftigen Umgang mit sämtlichen Göttern sein. Dazu gehört ein breites Wissensangebot, dass nicht durch Lobby-Arbeit oder parteipolitische Argumente beeinflusst wird. Es geht also um eine kluge, zeitgemäße, unabhängige Bildungspolitik. Zeitgemäß bedeutet nicht, dass Digitalisierung als Buzzword und Heilmittel für alles missbraucht wird, sondern kritisch in Möglichkeiten, Chancen und Risiken zerlegt und dementsprechend ethisch korrekt angewendet wird.
Schaue ich mir aber die aktuelle Bildungspolitik in Deutschland an… [no further comment]