a number of owls are sitting on a wire

„homo sapiens connexus“: Warum uns das Netz zu Risikopiloten macht

Auf die nachfolgenden Überlegungen bin ich durch mein demnächst erscheinendes Buch gekommen, als ich mir das Thema Gruppendynamik etwas genauer angeschaut habe.

Wenn wir uns durch die Tiefen des Internets scrollen, könnte man meinen, dass die Menschheit online einen etwas anderen Kurs fährt als im echten Leben. Von waghalsigen Selfies auf Hochhausdächern bis zu extremen Challenges, die eher nach einer Bewerbung für den Darwin-Award aussehen – das Netz scheint uns zu Risikopiloten zu machen. Aber warum eigentlich?

Die Macht der Peergroups

Es ist keine Überraschung: Wir Menschen sind soziale Wesen. Ob wir nun wollen oder nicht, wir vergleichen uns ständig mit anderen. Dieser Mechanismus, der in den 1950er Jahren von Leon Festinger als Social Comparison Theory beschrieben wurde, ist in den sozialen Medien besonders stark ausgeprägt. Hier treten wir nicht nur als Individuen auf, sondern bewegen uns in Peergroups, die uns immer wieder spiegeln, wo wir im sozialen Gefüge stehen – und uns manchmal dazu bringen, etwas wilder zu agieren.

Die Plattformen fördern diesen Vergleich nicht nur, sie leben davon. Wer bekommt mehr ‚Likes‘? Wessen Beitrag geht viral? Das treibt uns dazu, unser Verhalten immer weiter zu verschärfen, um in der digitalen Gruppe aufzufallen. Was im Alltag als vernünftige Zurückhaltung gelten mag, wird online schnell als „langweilig“ abgestempelt.

Wer jetzt aber denkt, dass diese Macht der Peergroups nur für die jüngeren Semester gilt, der irrt. Sobald man in den sozialen Medien unterwegs ist, befindet man sich sehr schnell in seiner „Peergroup“ oder auch „Bubble“, generiert aus der Filterblase der Algorithmen.

Der Enthemmungseffekt

Nun ist es aber nicht nur der soziale Vergleich, der uns mutiger macht. Das Phänomen des Online Disinhibition Effects, beschrieben von John Suler im Jahr 2004, zeigt uns, warum wir im Netz enthemmter sind: Anonymität, physische Distanz und das Gefühl, dass es keine echten Konsequenzen gibt, lassen uns Dinge tun und sagen, die wir in der Realität niemals wagen würden. Online lässt es sich eben leichter Risiken eingehen, wenn der einzige mögliche Schaden ein paar böse Kommentare sind – und die lassen sich ja einfach ignorieren oder löschen.

Das Spiel mit der Selbstdarstellung

Aber wieso zeigen wir uns online so oft von einer extremen Seite? Hier spielt die Selbstdarstellung eine zentrale Rolle, wie Buffardi und Campbell in ihrer Studie zu Narzissmus in sozialen Medien 2008 feststellten. Es geht darum, gesehen zu werden – und in einer Welt, die ständig nach der nächsten großen Geschichte sucht, führt das zu übertriebenem Verhalten. Das heißt nicht, dass wir alle heimlich Narzissten sind, aber soziale Medien bieten eben die perfekte Bühne, um uns von unserer spektakulärsten Seite zu zeigen. Die Likes sind das digitale Schulterklopfen, das wir uns alle wünschen.

FOMO: Der Treibstoff für verrücktes Verhalten

Wer sich noch fragt, warum diese Dynamik so stark ist, muss nur einen Blick auf das Konzept der FOMOFear of Missing Out – werfen. Przybylski et al. (2013) beschreiben diesen modernen Angstfaktor, der uns antreibt, immer und überall dabei zu sein, koste es, was es wolle. In der Social-Media-Welt ist nichts schlimmer, als nicht präsent zu sein. Um diesem Gefühl zu entkommen, nehmen viele Menschen höhere Risiken in Kauf – ob es um fragwürdige Challenges oder brisante Meinungsäußerungen geht.

Der Einfluss der Peergroup

Wenn man dann noch bedenkt, dass der Einfluss von Peergroups online stärker ist als im realen Leben, wird das Bild komplett. Valkenburg, Peter und Schouten (2006) zeigen, dass Peergroups online einen besonderen Druck ausüben. Wer sich nicht anpasst oder auffällt, wird schnell übersehen. Diese Dynamik führt dazu, dass in digitalen Communities nicht nur Meinungen und Ideen, sondern auch riskantes Verhalten besonders schnell und breit verbreitet werden.

Fazit: Nicht jeder Shitstorm ist vorhersehbar

Natürlich lässt sich nicht jedes extreme Verhalten im Netz vorhersagen. Der berühmte Shitstorm kann jederzeit und aus den unterschiedlichsten Gründen losbrechen. Doch eines ist sicher: Im Netz handeln Menschen oft anders, als sie es offline tun würden. Die Kombination aus sozialem Vergleich, der Enthemmung durch Anonymität und der unstillbaren Angst, etwas zu verpassen, sorgt dafür, dass unser Verhalten in der digitalen Peergroup überproportional risikofreudig und oft auch übertrieben ist. Und während das Netz uns sicher nicht immer in den Abgrund stürzt, sollte man diese Dynamik doch im Hinterkopf behalten, wenn der nächste virale Trend lockt.


Das bringt uns dazu, die Frage zu stellen: Wie weit würdest du gehen für ein paar Klicks?


Quellen:

  • Festinger, L. (1954). A Theory of Social Comparison Processes.
  • Suler, J. (2004). The Online Disinhibition Effect.
  • Buffardi, L. E., & Campbell, W. K. (2008). Narcissism and Social Networking Web Sites.
  • Przybylski, A. K., et al. (2013). The Fear of Missing Out (FOMO) Scale.
  • Valkenburg, P. M., Peter, J., & Schouten, A. P. (2006). Friend Networking Sites and Their Relationship to Adolescents‘ Well-Being and Social Self-Esteem

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