Im Tagesgeschäft vieler Ingenieure nimmt der Spagat zwischen tiefgehender Spezialisierung und dem Verständnis für das Gesamtbild immer mehr an Bedeutung zu.
Ein Trend zu hochgradig spezialisierter Detailarbeit scheint der effizienten Gesamtbetrachtung eines Produkts entgegenzuwirken, und der „Komplexitätshub“ wird so oft zum Stolperstein statt zum Fortschrittstreiber.
Der Komplexitätshub – Spezialisierung um jeden Preis?
Technologische Fortschritte und immer spezialisiertere Anwendungsgebiete schaffen ein Umfeld, in dem Ingenieure zunehmend tiefer in bestimmte Themenbereiche eintauchen müssen. Der sogenannte Komplexitätshub führt häufig zu einer Überforderung durch die enormen Anforderungen an Know-how in spezifischen Disziplinen, sodass Ingenieure in immer engeren Spezialisierungen arbeiten und so das Gesamtprodukt aus dem Blick verlieren.
Diese extremen Spezialisierungen sind oft eine direkte Reaktion auf die Komplexität heutiger Technologien, fördern aber auch eine Segmentierung im Denken, die holistische Ansätze schwächt.
Hier zeigt sich ein Trend zur Überbetonung der Teilarbeit, der viele Ingenieure dazu führt, ihren Beitrag nur als kleine Zelle innerhalb eines größeren Organismus zu sehen.
Der Zusammenhang zwischen dem Detail und dem Gesamtprodukt wird blasser, da die Komplexität, die ursprünglich durch Spezialisierung gemeistert werden sollte, den Ingenieur in ein zu enges Korsett zwingt.
Der Blick für das Ganze – wenn Spezialisierung den holistischen Blick verdrängt
Eine Folge der extremen Spezialisierung ist, dass Ingenieure den Zusammenhang zwischen ihrer Arbeit und dem Endprodukt oft nicht mehr im vollen Umfang verstehen. Die Fähigkeit, den Einfluss des eigenen Tuns auf das Gesamtsystem oder die Wirtschaftlichkeit eines Projekts einzuschätzen, schwindet zunehmend.
Die zunehmende Modellierung auf mathematisch-physikalischer Ebene verstärkt diese Tendenz. Modelle sind in ihrer Natur vereinfachte Abbilder und blenden oft wichtige Faktoren wie Toleranzen oder unsichere Variablen aus. Diese Vereinfachungen verzerren das Bild und lassen die Auswirkungen minimaler Abweichungen im tatsächlichen Betrieb unter den Tisch fallen.
Jevons-Paradoxon – Steigende Rechenleistung, schwindende Optimierungskompetenz
Ein bemerkenswerter Effekt im Ingenieurwesen, der sich auf die Designmethodik auswirkt, ist das Jevons-Paradoxon. Dieses Paradoxon beschreibt, dass eine Effizienzsteigerung durch verbesserte Technologie nicht zwingend zu einem geringeren Ressourcenverbrauch führt, sondern oft das Gegenteil bewirkt – ein steigender Ressourcenverbrauch durch höhere Nutzungsmöglichkeiten und damit oft auch weniger Optimierungsanreize.
Die enorme Steigerung der Rechenleistung ermöglicht zwar sehr detaillierte Simulationen und Analysen, verleitet jedoch auch dazu, weniger Energie in echte Optimierungsprozesse zu investieren. Im Gegensatz zur früheren Nutzung von Assemblersprachen und optimierter Programmierung, die eine hohe Effizienz erforderte, führt die heutige Entwicklung in Modellierungssprachen und Hochsprachen dazu, dass die Entwicklung auf die verfügbare Rechenleistung baut und echte Optimierungen oft vernachlässigt werden.
Das hat gerade in sicherheitskritischen Bereichen wie Safety und Cybersecurity Risiken zur Folge, da ungenutzte Optimierungspotenziale häufig Schwachstellen begünstigen.
Veränderung durch ein Studium Generale – Wege zu einem holistischeren Denken
Wie lässt sich dieser Trend zu einem rein spezialisierten Detailblick durchbrechen? Ein bewährtes Mittel könnte ein Studium Generale sein, das sich auf übergeordnete Inhalte fokussiert und einen gezielten Transfer allgemeiner Kompetenzen in die Fachrichtungen unterstützt.
Um das Ingenieurwesen wieder näher an einen holistischen Blick zu bringen, könnten auch fachübergreifende Vorlesungen und interdisziplinäre Konferenzen sinnvoll sein. Es ist möglich, diesen Ansatz bereits im Studium zu verankern und Ingenieure zur aktiven Betrachtung des Gesamtbildes zu motivieren.
Konferenzen, wie etwa zu Themen der Systems Engineering Methodologie, bieten Ansätze, wie Ingenieure dazu angehalten werden können, vermehrt systemische Zusammenhänge zu betrachten und Verantwortung für das Gesamtprodukt zu übernehmen. Dabei gilt es aber, die prozess- und dokumentationsgetriebenen Anteile durch technische Aspekte zu ergänzen.
Fazit – Spezialisierung und das große Ganze im Einklang bringen
In einer zunehmend komplexen Welt kann Spezialisierung zwar unverzichtbar sein, jedoch bedarf es eines bewussten Balanceaktes zwischen Detailtiefe und einem ganzheitlichen Verständnis.
Der Ingenieur der Zukunft muss nicht nur seine Rolle im Detail beherrschen, sondern auch die Fähigkeit entwickeln, das Gesamtbild zu verstehen und zu bewahren. Nur so lässt sich die volle Innovationskraft des Ingenieurwesens entfalten, ohne die Anforderungen an Safety, Cybersecurity und Effizienz aus den Augen zu verlieren.