Im weiten, von ehrwürdigen Olivenbäumen und uralten Eichen beschatteten Lande der Erinnerung, wo Ströme Geschichten tragen und der Wind die Stimmen der Vergangenheit in die Gegenwart flüstert, lebten einst ein mächtiger Löwe und ein kluger Rabe. Verschieden an Gestalt und Wesen, wie Tag und Nacht, verband sie doch ein unsichtbares Band, gewoben aus gemeinsamer Erfahrung, gegenseitigem Respekt und der seltenen Kraft wahrer Freundschaft.
Der Löwe, Herrscher der Steppe, war stark an Leib und Geist, stolz und wachsam, oft gezwungen, seine Stärke gegen die Angriffe der Nachbarn zu behaupten. Doch in seinem Innersten tobte ein Zwiespalt, der ihn mehr und mehr gefangen nahm. Einst hatte das Leid seiner Familie sein Herz geprägt: Er wusste um die Narben, die Verfolgung und Vertreibung hinterlassen hatten, und hatte sich geschworen, nie wieder Opfer zu sein. Doch je mehr Zeit verstrich, desto ferner schienen ihm diese Erinnerungen. Neue Stimmen, falsche Freunde, umschmeichelten ihn mit Versprechen von Größe und Sicherheit, flüsterten ihm Ziele ein, die nicht die seinen waren. Sie redeten ihm ein, dass Stärke nur in Abgrenzung, nicht in Versöhnung liege; dass alte Bündnisse Last statt Schutz bedeuteten.
Der Rabe, ein Vogel von scharfem Verstand und glänzendem Gefieder, war kleiner an Gestalt, doch nicht an Geist. Er war es gewohnt, die Welt aus der Höhe zu betrachten, zu beobachten und zu deuten, und sein Herz war offen für Versöhnung und neue Wege. Mit wachsender Sorge beobachtete er, wie der Löwe sich veränderte: Die alten Geschichten von Leid und Überleben, einst Quelle von Mitgefühl und Klugheit, gerieten in Vergessenheit. Der Löwe begann, sich an jenen zu orientieren, die ihm schmeichelten, aber nicht wohlgesonnen waren – Tiere, die eigene Ziele verfolgten, ihn in Kämpfe trieben, die nicht die seinen waren.
Immer öfter sprach der Löwe von Stärke, von Notwendigkeit, von der Pflicht, sich zu behaupten – doch seine Worte klangen hohl, als habe er das eigentliche Ziel aus den Augen verloren. Er vergaß, dass gerade das Erinnern an das eigene Leid ihn einst weise gemacht hatte. Er vergaß, dass die Freundschaft zum Raben ein Zeichen der Hoffnung war, nicht der Schwäche. Der innere Kampf zerriss ihn: Die Sehnsucht nach Sicherheit, die Angst vor neuer Verletzung, das Misstrauen gegenüber alten Freunden und die Verlockung falscher Bündnisse – all dies ließ ihn fremd werden, selbst für sich.
Eines Morgens, als der Tau noch auf den Blättern lag und die Luft von frischer Hoffnung erfüllt schien, suchte der Rabe das Gespräch mit dem Löwen. „Alter Freund“, sprach er mit sanfter Stimme, „du wandelst auf Wegen, die mir fremd geworden sind. Ich sehe dich, doch erkenne dich kaum wieder.“ Der Löwe schwieg lange. In seinen Augen spiegelte sich der Sturm, der in seinem Inneren tobte: Erinnerung und Vergessen, Treue und Zweifel, Stärke und Angst. Er brüllte nicht, wie es seine Art gewesen wäre, sondern sprach leise von der Not, von der Versuchung, dem eigenen Schmerz zu entfliehen, indem man auf andere herabblickt.
Der Rabe hörte zu, nicht zustimmend, aber mit offenem Ohr. Er erinnerte den Löwen an das Versprechen, das sie einander gegeben hatten: Die Vergangenheit nicht zu vergessen, aber auch nicht zu wiederholen. „Ich kann nicht mit dir fliegen, wenn du dich selbst vergisst“, sagte er schließlich. „Unsere Freundschaft war nie ein Handel, sondern ein Versprechen. Doch wenn du es brichst, kann ich nicht schweigen.“
Seit jenem Tage sah man die beiden seltener beisammen. Der Rabe zog fortan seine Kreise allein, doch nie sprach er schlecht über den Löwen. Er bewahrte seine Geschichte, erzählte sie weiter, als Warnung und als Hoffnung zugleich. Und der Löwe? Man sagt, er lauschte manchmal den Stimmen des Windes, in denen ein leiser Flügelschlag zu hören war. Vielleicht erinnerte er sich – an das Leid, das ihn einst geprägt hatte, und an den Freund, der ihm einst half, es zu tragen.
Ein neuer Morgen
Die Zeit verging, und mit ihr wuchs im Herzen des Löwen eine leise Sehnsucht. Die Stimmen der falschen Freunde wurden schwächer, je mehr er sich an die alten Geschichten erinnerte. Eines Tages, als die Sonne golden über die Steppe stieg, fand der Löwe den Mut, den Raben aufzusuchen. Er sprach von seinen Irrwegen, von der Angst, die ihn getrieben, von den Versprechen, die sich als Trug erwiesen hatten. Der Rabe hörte zu, sein Blick war freundlich und ernst zugleich.
„Jeder kann sich verirren, alter Freund“, sprach der Rabe. „Wichtig ist, den Weg zurück zu finden und aus der eigenen Geschichte zu lernen.“ Und so, im Licht des neuen Morgens, erneuerten sie ihr Versprechen: Die Erinnerung zu bewahren, sich gegenseitig zu mahnen und gemeinsam für das Gute einzustehen.
Wahre Freundschaft ist nicht blind. Sie verlangt, dass wir einander die Wahrheit zumuten, auch wenn sie schmerzt. Wer liebt, darf zu Unrecht nicht schweigen. Wer verbunden ist, muss den Mut haben, sich nicht verirren zu lassen – und den Mut, zurückzukehren. Wer das Leid der Vergangenheit kennt, trägt Verantwortung – nicht nur im Erinnern, sondern im Handeln des Heute. Der Rabe gab den Löwen nicht auf, und der Löwe fand den Weg zurück. Das ist der schwerste Weg – und vielleicht der einzig rechte.
Eine sehr hübsche Fabel – wenn es auch gleich die epilogiale „Moral“ en finis nicht zwingend gebraucht hätte; immerhin ist die fabulös verbrämte Kernbotschaft nicht gar allzu weit hinterm Ofen in Deckung gebracht…
Indes fällt aber (mir zumindest) doch etwas auf, und zwar am – sprachmalerischen Duktus!
Ja – in der Tat..
Allein es finden inmitten der finalen Passage – im beschließenden Akt respektive in jenen letzten Sentenzen der, wenn so will, aristotelischen Katharsis dieses (leider so ganz und gar ohne „humoreskes“ Momentum, mithin ohne jenen gewissen ,zauberhaften‘ letzten Schliff einer jeden der besseren Fabeln belassenen) – Drame en Miniature – einige suspekte .. Wendungen .. Auffälligkeiten in der sprachlichen Formgebung, oder vielleicht besser noch zu sagen, der lexikalischen Expression .. dergestalt jedenfalls – wiewohl kurzum – sodass man (wofern ausgestattet mit versiert-sensitivem Blick) sich versucht finden kann zu suspizieren:
Es möchte womöglich – ’s könnt‘ ja schließlich und immerhin doch wohl sein in dieser oh! so Neuen Zeit – gar die (schlechterdings gerademal leidlich) intelligente Kunst in beauftragter Eigenregie hier die Feder geführt haben… Aber wenn es auch so wäre – sei’s drum! Durch und durch schlechte Arbeit hätte sie hier letzthin mitnichten geleistet – au Contraire, mon Capitain.
❣️
Nun, nachdem wir das Lesen von Fabeln nicht mehr so gewohnt sind, dachte ich mir, die Quintessenz müsste noch mal erwähnt werden. Allerdings die Formatierung mit dem Hinweis ist tatsächlich nicht nötig. Ich habe es geändert!
Fragt sich jetzt nur noch, ob meine Intention erkannt wird! Welches Thema habe ich versucht, möglichst diplomatisch anzugehen?
Es geht scheinbar um die Leichtigkeit der Kompromittierung (eines dualen Verhältnisses) oder die Störung eines harmonischen Gleichklangs, wofern bspw. 2 Herzen zu schlagen wie eines – vermittels Verführung durch scheinbar einfache Lösungen für Fragen, deren Beantwortung nicht ohne gewisse eherne Fundamente erstehen kann (…) – und die Schwierigkeit der Restauration einstiger Integriät , die mit Selbsterkenntnis beginnt, jedoch letzthin meist nur mit verständigem respektive wohlmögendem Lang- sowie Großmut vonseiten des Gegenüber zur Vollendung kommt (obschon auch ohnedies durchaus kommen könnte) …
Vielleicht auch geht es um eine Kant’sche Resolution, die sich realiter ergiebt aus seinem hehren Credo:
„Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen“