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Sysiphos war eine Frau – vom ewigen Wäscheberg und heimlichen Heldinnen

Es war ein Abend, wie viele – gemütlich auf dem Sofa, die Kinder im Bett, ein Glas Wein in der Hand. Da sagte meine Frau plötzlich: „Weißt du eigentlich, Sysiphos war eine Frau.“ Ich lachte, kurz und laut. Dann blieb mir das Lachen im Hals stecken. Weil ich genau wusste, dass sie recht hatte.

Wir alle kennen die alte griechische Sage: Sysiphos, der König von Korinth, der zur Strafe einen Felsbrocken einen Berg hinaufrollen muss – und kaum ist er oben, rollt er wieder hinunter. Ein ewiger Kreislauf, sinnlos und ohne Aussicht auf Erfolg.

Doch wenn wir ehrlich sind: Wer in unserem Alltag schiebt die meisten dieser Felsbrocken? Und sind es nicht eigentlich Berge von Kinderwäsche, Spielzeugchaos, endlosen Einkaufslisten und Schulbrotschnitten?

Der Berg heißt Alltag

Was in der Mythologie ein Stein ist, ist im echten Leben oft ein Wäscheberg. Handtücher, Bettwäsche, Shirts mit Spaghetti- und Eisflecken, Jeans mit Rasenstreifen am Knie – ein alltäglicher Berg, der nie kleiner wird. Kaum ist die Wäsche gewaschen, hängt schon wieder die nächste Ladung im Korb. Es ist der ewige Zyklus, der uns daran erinnert: Routineaufgaben haben keinen Endpunkt, sie wiederholen sich unendlich.

Dabei reden wir nicht nur von Wäsche. Wir reden über das Pausenbrot der Kinder, das jeden Morgen neu gemacht wird. Über die Küche, die fast schon provokant von selbst wieder unordentlich wird, sobald man sie geputzt hat. Über Einkaufslisten, bei denen man schon beim Schreiben weiß: In drei Tagen wiederholt sich der gleiche Gang in den Supermarkt. Wer diese Aufgaben leistet, schiebt seinen Berg – Tag für Tag – und trotzdem merken die meisten es kaum.

Routine hat kein Denkmal

Niemand baut eine Statue für jemanden, der zum hundertsten Mal die Brotdose spült oder den Altpapiercontainer leermacht. Routinen werden nicht gefeiert. Sie sind unsichtbar – gerade deswegen. In der Sage war Sysiphos der tragische Held, weil seine Aufgabe so absurd war. Aber ist es weniger absurd, dass ein Großteil dieser endlosen, wiederkehrenden Aufgaben oft an Frauen hängen bleibt?

Anscheinend haben wir es kulturell nie gelernt, den unsichtbaren Marathon des Alltags zu würdigen. Es ist kein Projekt mit Ziellinie, kein messbarer Erfolg. Es ist schlicht das Leben rund um die Menschen, die man liebt – und es bleibt einfach nicht stehen.

Vielleicht liegt genau hier die Liebe im Mythos. Denn Sysiphos, so erzählt es meine Frau, hörte nicht einfach auf. Er rollte – Tag für Tag – und irgendwie hielt er damit alles am Laufen.

Der Wäscheberg als Liebesbeweis

Ja, man kann über Wäscheberge lachen. Aber wer sie abbaut, tut es selten allein aus Pflicht. Es steckt auch Fürsorge dahinter. In jedem frisch gefalteten T-Shirt steckt das stille Wissen: Morgen wird es getragen, es hält warm, es fühlt sich gut an. Liebe zeigt sich oft nicht in großen Gesten, sondern in kleinen, unscheinbaren Handgriffen. Vielleicht kommt der wahre heroische Glanz genau daher.

Und genau dieser Gedanke machte mich still. Wir sagen oft „danke“ für besondere Momente – ein schönes Abendessen, ein Geschenk. Aber wie oft sagen wir „danke“ für die Routine? Für den gefüllten Kühlschrank, für die neu bezogenen Betten, für die Tatsache, dass die Wassergläser immer sauber im Schrank stehen?

Unsichtbar ist nicht unwichtig

Nur weil eine Arbeit im Alltag unsichtbar ist, heißt das nicht, dass sie weniger wichtig wäre. Im Gegenteil: Die unsichtbare Arbeit hält alles zusammen. Im Soziologischen nennt man das „Mental Load“ – die ständige, unsichtbare Verantwortung, die Dinge im Hintergrund am Laufen zu halten. Viele Studien zeigen, dass dieser unsichtbare Berg überproportional bei Frauen landet. Und jedes Mal, wenn etwas vergessen wurde, merken wir erst, dass er überhaupt da ist.

Vielleicht wurde Sysiphos nie gefragt, ob er Hilfe möchte. Vielleicht hatte er irgendwann aufgehört zu glauben, dass jemand den Stein mit ihm schiebt. Das ist das Risiko der endlosen Routinearbeit: Wenn sie gut läuft, sieht sie niemand. Wenn sie nicht gemacht wird, bricht Chaos aus. Das ist mehr als ein Mythos – das ist Realität.

Wie man helfen kann

Es klingt banal – ist es aber nicht: Helfen heißt nicht nur einmal die Wäsche vom Wäscheständer nehmen. Es heißt, Verantwortung zu übernehmen. Nicht erst auf Aufforderung, sondern proaktiv. Nicht „Sag mir, was ich tun soll“, sondern „Ich habe schon angefangen“. Diese Haltung kann den Berg zwar nicht komplett verschwinden lassen, aber er wird leichter, wenn mehrere Hände ihn gemeinsam rollen.

Und vielleicht sollten wir anfangen, offen darüber zu sprechen. Die Last der Routineaufgaben aus der Unsichtbarkeit holen, sie anerkennen und wertschätzen. Denn der wahre Unterschied zwischen der Sage und unserem Alltag ist: In unserem Alltag muss niemand den Berg allein schieben – wenn wir es anders wollen.

Ein modernes Denkmal

Vielleicht sollten wir Sysiphos in der Erzählung neu schreiben. Nicht als einsamen König, sondern als Frau, die Tag für Tag den Wäscheberg erklimmt, den Kühlschrank auffüllt und die Suppenküche am Laufen hält. Eine Figur, die für die unsichtbare, unaufhörliche Arbeit steht. Und vielleicht bauen wir doch ein Denkmal – nicht aus Marmor, sondern aus simplen, ehrlichen „Danke“s im Alltag.

Meine Frau hatte recht. Sysiphos war eine Frau. Und sie wohnt hier.

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