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Mensuro, ergo sum – Ich messe, also bin ich!

Wir leben in einer Welt, die zunehmend von Zahlen, Daten und Messwerten dominiert wird. Ob in der Technik, in den Finanzen oder bei der Vermessung des menschlichen Körpers – „mensuro, ergo sum“ könnte das Mantra unserer Zeit sein.

Es kommt einem bekannt vor? „Cogito, ergo sum“ ist der bekannte Satz des Philosophen René Descartes und bedeutet übersetzt „Ich denke, also bin ich“. Dieser Satz ist ein fundamentaler Ausgangspunkt seiner Philosophie und besagt, dass die Existenz des denkenden Ichs das einzige, absolut sichere Wissen ist, das ein Mensch haben kann.

Doch was bedeutet es, wenn wir alles messen, was messbar ist? Und was bleibt dabei auf der Strecke?

Mensuro, ergo sum – Der Messwahn: Alles, was geht

Die technologischen Fortschritte der letzten Jahrzehnte haben die Messbarkeit auf ein neues Niveau gehoben.

Sensoren, Algorithmen und Big Data ermöglichen es uns, praktisch alles zu quantifizieren: Vom Blutzuckerspiegel über den Börsenkurs bis hin zur Schlafqualität. Je präziser die Messinstrumente werden, desto mehr streben wir danach, auch die kleinsten Abweichungen zu erfassen.

Doch in diesem Streben nach Präzision verlieren wir oft den Blick für das Wesentliche. Was bedeuten diese Zahlen überhaupt? Ein Blutdruck von 120/80 ist optimal, aber was sagt er über das Leben eines Menschen aus?

Eine Aktie steigt um 2%, aber welche langfristigen Konsequenzen hat das für die Wirtschaft? Die Bedeutung der Messwerte und Zahlen wird zunehmend zur Nebensache, verdrängt von der bloßen Verfügbarkeit der Daten.

Der Zwang zur Optimierung

Mit der Möglichkeit zu messen kommt der Druck, zu optimieren. Zahlen werden zum Treiber für Effizienzsteigerung. Unternehmen wollen Prozesse beschleunigen, Menschen streben nach der perfekten Work-Life-Balance, und selbst der Schlaf wird zu einer Kennzahl, die optimiert werden muss.

Dieser Zwang zur Optimierung führt zu einer Spirale, in der wir uns immer weiter selbst vermessen und dabei vergessen, dass das Leben mehr ist als Zahlen.

Es entsteht ein Teufelskreis: Der Druck zur Optimierung verlangt nach immer präziseren Messwerten, die wiederum neue Defizite aufzeigen und den Druck weiter erhöhen. Wir laufen Gefahr, uns in diesem Streben nach Perfektion zu verlieren und dabei die Grenzen unserer Menschlichkeit zu überschreiten.

Das Ende der Holistik

Die Fixierung auf Messwerte hat noch eine weitere Konsequenz: Wir verlieren den Blick für das Ganze. Zusammenhänge werden ignoriert, weil sie schwer zu messen sind.

Die Welt wird fragmentiert, aufgeteilt in isolierte Datenpunkte. Holistische Ansätze, die das Ganze in den Blick nehmen, haben es schwer, in einer Welt, die von Tabellen und Dashboards regiert wird.

Gleichzeitig beginnt uns die Flut an Daten zu überfordern. Wir bilden uns ein, die Welt würde komplexer, dabei sind es nur die Datenstrukturen und deren neue Möglichkeiten zur Interpretation.

Big Data und Bias

Big Data hat den Messwahn auf eine neue Ebene gehoben.

Mit riesigen Datenmengen können wir Muster erkennen, die uns vorher verborgen geblieben sind. Doch diese Muster sind nicht neutral. Sie sind geprägt von den Vorurteilen derjenigen, die die Algorithmen entwickeln.

Biasing wird zu einem unsichtbaren Treiber, der Entscheidungen beeinflusst, ohne dass wir es bemerken. Erst bei direkten Konsequenzen werden wir partiell wach und beschweren uns über nicht bewilligte Kredite oder zu hohe Entwicklungskosten etc.

Die Objektivität, die wir von Zahlen erwarten, ist oft eine Illusion. Gleichzeitig werden Zusammenhänge vermutet, wo keine sind, weil wir der Künstlichen Intelligenz zu viel Vertrauen schenken.

Ein Algorithmus mag Korrelationen finden, doch Korrelation ist nicht Kausalität. Dieses blinde Vertrauen kann uns in die Irre führen und Entscheidungen auf falschen Annahmen basieren lassen.

Der Verlust des Zufalls

In einer Welt, in der alles gemessen wird, bleibt kein Platz für den Zufall. Chaos wird nicht mehr als natürlicher Zustand, sondern zur schlimmsten anzunehmenden Situation schlechthin. Dabei sind bereits die Bausteine des Universums chaotisch und nicht mehr vorhersehbar.

Das Leben ist also unvorhersehbar, chaotisch und oft nicht messbar. Indem wir den Zufall eliminieren wollen, berauben wir uns einer wichtigen Dimension des Menschseins.

Nicht alles, was passiert, muss einen Grund haben – und das die Ordnung, erst dann ist alles in Ordnung. Doch der Verlust des Zufalls erfordert oft eine neue Begründung.

Wo wir früher Zufälle akzeptiert haben, suchen wir heute nach Verantwortlichen. Das führt zu einem ständigen Kreislauf der Schuldzuweisung – jemand oder etwas muss für jede Abweichung verantwortlich gemacht werden.

Messen heißt Vergleichen

Das Messen bringt unweigerlich den Vergleich mit sich. Doch dieser Vergleich steht oft im Widerspruch zu unserem Wunsch nach Individualität.

Wir wollen einzigartig sein, messen uns aber an Durchschnittswerten, Benchmarks und Rankings. Dieser Widerspruch führt zu einer paradoxen Situation: Wir streben nach Individualität, definieren uns aber über die Zahlen, die uns mit anderen vergleichbar machen.

Die Messlatte als modernes Kreuz

Die Messlatte ist zu einem modernen Kreuz geworden, an dem wir uns selbst aufhängen.

Sie steht für die Ideale, die wir erreichen wollen, und wird gleichzeitig zum Symbol unserer Unzulänglichkeit. Wir messen uns an Zahlen, die wir selbst geschaffen haben, und scheitern doch immer wieder daran.

Diese ständige Selbstvermessung führt nicht zu mehr Freiheit, sondern zu mehr Druck.

Gleichzeitig stellt die Messlatte einen Zaun für unsere gedankliche Freiheit dar. Sie begrenzt unseren Horizont, weil wir uns innerhalb der messbaren Parameter bewegen müssen.

So wird die Messlatte zu einem Gefängnis, aus dem wir uns nicht befreien können. Und dennoch wird von uns erwartet, „outside the box“ zu denken – ein Widerspruch, der uns in unserer Kreativität hemmt.

Gleichzeitig sehnen wir uns nach den Göttern, die wir durch diese Zahlen zu ersetzen versuchen. Die Zahlen geben uns vermeintliche Sicherheit, wo vorher Glauben war. Doch sie bleiben leblos, ohne Seele, ohne Trost.

Die Messlatte mag hoch sein, doch sie kann uns nicht die Antworten geben, die wir suchen. Sie ersetzt nicht die Werte, die wir verloren haben, sondern verstärkt nur das Gefühl der Leere.

Ein Plädoyer für den Blick hinter die Zahlen

„Mensuro, ergo sum“ mag das Credo unserer Zeit sein, doch es ist Zeit, dieses Credo zu hinterfragen.

Zahlen können wertvolle Werkzeuge sein, aber sie sind nicht das Ziel. Der Mensch, die Zusammenhänge, das Leben selbst – all das ist mehr als die Summe seiner Messwerte.

Es liegt an uns, den Blick für das Ganze zu bewahren und die Bedeutung hinter den Zahlen nicht aus den Augen zu verlieren. Vielleicht ist es an der Zeit, den Zufall, die Holistik und die Menschlichkeit wieder in den Mittelpunkt zu rücken und die Messlatte als das zu sehen, was sie ist: ein Werkzeug, aber nicht das Maß aller Dinge.

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