Neulich an der Supermarktkasse: Ein kurzes Gespräch, das nachhallt. Die Frage, die daraus entstand, beschäftigt mich seitdem – was passiert eigentlich, wenn Mitarbeitende sich so sehr an Prozesse klammern, dass daraus Stress und Fehler entstehen? Besonders spannend wird es, wenn das ausgerechnet Menschen betrifft, die sonst als souverän und routiniert gelten. Grund für eine Sammlung an Argumenten, wenn Prozesse klemmen.
Prozesse sind in nahezu jeder Branche und in allen Unternehmensbereichen präsent, weil sie auf der Hoffnung basieren, Ergebnisse reproduzierbar und vorhersehbar zu gestalten. Unternehmen setzen auf standardisierte Abläufe, um Effizienz zu steigern, Fehler zu minimieren und die Qualität ihrer Produkte oder Dienstleistungen sicherzustellen. Das gilt sowohl in der Produktion, im Dienstleistungssektor, im Gesundheitswesen, im Finanzwesen als auch in der Logistik und im Handel.
Ein zentraler Beweggrund für die Einführung von Prozessen ist die Vermeidung von Regressforderungen, etwa bei fehlerhaften Produkten oder Dienstleistungen, die rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen können. Durch klar definierte Prozesse lassen sich Verantwortlichkeiten eindeutig zuordnen und Nachvollziehbarkeit gewährleisten, was im Streitfall eine wichtige Rolle spielt. Zudem ermöglichen standardisierte Abläufe eine schnellere Einarbeitung neuer Mitarbeitender und erleichtern die Automatisierung, was wiederum Kosten senkt und die Skalierbarkeit verbessert.
Weitere Aspekte sind die Einhaltung gesetzlicher Vorgaben, wie Datenschutz- oder Qualitätsstandards, sowie die Sicherstellung der Kundenzufriedenheit durch konsistente Servicequalität. In der digitalen Welt tragen Prozesse auch dazu bei, Daten effizient zu erfassen, zu analysieren und daraus Erkenntnisse für strategische Entscheidungen zu gewinnen. Insgesamt sind Prozesse das Rückgrat moderner Unternehmen, um Wettbewerbsfähigkeit, Nachhaltigkeit und Innovation zu sichern.
Einleitung: Wenn Prozess klemmen
In vielen Organisationen gelten Prozesse als das Rückgrat der täglichen Arbeit. Doch was passiert, wenn sie nicht funktionieren? Wenn Schritte übersprungen, Ergebnisse mangelhaft oder Termine gerissen werden? Solche „klemmenden Prozesse“ führen nicht nur zu Reibungsverlusten – sie sind auch Symptom tiefer liegender Strukturprobleme. Dieser Beitrag beleuchtet Ursachen, Auswirkungen und vor allem Lösungsansätze für klemmende Prozesse. Dabei geht es nicht nur um Technik – sondern auch um Sprache, Haltung und Kultur.
Wann Prozesse klemmen: Symptome erkennen
Klemmende Prozesse zeigen sich selten sofort. Vielmehr sind es kleine Unregelmäßigkeiten, die auf größere Schwächen hinweisen:
- Mitarbeiter suchen sich „Schleichwege“, um unpraktische Prozessschritte zu umgehen.
- Prozessergebnisse erfüllen nicht die erwartete Qualität – z. B. bei Freigaben oder Prüfschritten.
- Fehlerquote höher als erwartet
- Deadlines werden systematisch verfehlt – etwa in der Angebotserstellung oder im Onboarding neuer Kollegen.
- Kommunikationsabbrüche führen dazu, dass notwendige Informationen verloren gehen.
Beispiele aus der Praxis: Wenn Prozesse ins Stocken geraten
IT-Support: Genehmigungskaskade blockiert Arbeitsfähigkeit
In einem mittelständischen Unternehmen sah der IT-Supportprozess vor, dass für die Bestellung eines neuen Laptops drei separate Genehmigungen erforderlich waren – zunächst durch den direkten Vorgesetzten, dann durch den Bereichsleiter und schließlich durch das zentrale IT-Controlling. In der Praxis führte dies dazu, dass Mitarbeitende teilweise über Wochen hinweg ohne notwendige Ausstattung arbeiten mussten. Um ihre Arbeitsfähigkeit aufrechtzuerhalten, begannen einige, private Geräte zu verwenden oder sich inoffiziell mit Kollegen auszustatten. Der eigentliche Prozess wurde so regelmäßig umgangen – ein klares Zeichen dafür, dass seine Umsetzung nicht mit dem tatsächlichen Bedarf übereinstimmte.
Produktentwicklung: Fehlende Abstimmungen zwischen Teams
Ein weiteres Beispiel betrifft die Markteinführung eines neuen Produkts. Hier war zwar der technische Entwicklungsprozess klar definiert, jedoch fehlten im Prozessmodell sämtliche Schnittstellen zur Marketingabteilung. Als das Produkt technisch fertig war, begann die Marketingplanung praktisch bei null – was zu massiven Verzögerungen im Go-to-Market führte. Die Teams arbeiteten faktisch aneinander vorbei, obwohl sie am selben Projekt beteiligt waren. Die Ursache lag nicht im fehlenden Willen zur Zusammenarbeit, sondern schlicht in der Tatsache, dass der Prozess diese gar nicht vorsah.
Evakuierung bei Gefahr: Ein Weg ist kein Weg
In einem großen Bürogebäude bestand der offizielle Evakuierungsprozess aus nur einer definierten Fluchtroute: dem Haupttreppenhaus. Diese Einseitigkeit hatte in der Theorie Bestand – bis ein realer Feueralarm auftrat. Das Treppenhaus war durch Rauchentwicklung unpassierbar, und es kam zu chaotischen Szenen: Einige Mitarbeitende warteten unsicher auf Anweisungen, andere suchten eigenständig nach Auswegen – mit teils gefährlichen Konsequenzen. Die Evakuierung dauerte doppelt so lange wie vorgesehen, was im Ernstfall Menschenleben hätte kosten können. Die Organisation reagierte, indem sie alternative Fluchtwege in den Prozess integrierte, klare Wenn-dann-Szenarien formulierte und die Abläufe regelmäßig durch Übungen validierte. Sichtbare Grafiken und Schulungen unterstützen seither das Verständnis.
Notdienst in der Pflege: Bürokratie vor Bedürfnis
In einem ambulanten Pflegedienst wurde der Notdienstprozess streng hierarchisch organisiert: Bei Ausfall einer Pflegekraft sollten erst interne Rückfragen gestellt, dann Genehmigungen eingeholt und schließlich Springerkräfte angefordert werden. An einem Wochenende war jedoch die erste Entscheidungsebene nicht erreichbar. Die Vertretung zögerte – auch aus Angst, „den Prozess zu brechen“. Das Ergebnis: Ein Patient blieb über Stunden hinweg unversorgt, die notwendige Medikamentengabe erfolgte zu spät. Der emotionale Druck auf das Team vor Ort war enorm. Als Konsequenz wurde der Prozess vereinfacht: Die Diensthabenden erhielten klare Handlungsvollmachten, Kommunikationsketten wurden visualisiert und durch Schulungen gestärkt. So entstand aus einem lähmenden Schema ein flexibles, verantwortungsvolles Reaktionssystem.
Hotellerie: Reklamationen ohne Handlungsspielraum
In einem gehobenen Hotelbetrieb führte der Reklamationsprozess dazu, dass Mitarbeitende an der Rezeption bei Beschwerden keine Sofortlösungen anbieten durften. Jede Maßnahme – etwa ein kostenloses Upgrade oder ein Getränkegutschein – musste über mehrere Instanzen freigegeben werden. In einem konkreten Fall reklamierte ein Gast nachts eine defekte Klimaanlage. Die Rezeptionistin konnte nicht helfen, weil weder Schichtleitung noch Backoffice erreichbar waren. Am nächsten Morgen war der Gast bereits abgereist – und hatte eine entsprechend negative Bewertung hinterlassen. Der Prozess wurde daraufhin angepasst: Die Nachtschicht erhielt definierte Spielräume für Sofortmaßnahmen, und die Dokumentation erfolgt nun digital und verzögerungsfrei. Das stärkt die Autonomie des Teams und verbessert die Gästebindung nachhaltig.
Warum Prozesse klemmen: Ursachen verstehen
Hinter solchen Symptomen stecken vielfältige Ursachen:
- Falsche Sprache: Prozesse werden in abstrakter, schwer verständlicher Sprache beschrieben – ohne Rücksicht auf die Leser.
- Teilweise Laien am Werk: Prozesse werden oft von Personen gestaltet, die entweder tief in der Fachmaterie, aber nicht in der Prozessmodellierung zuhause sind – oder umgekehrt. Das führt zu unrealistischen Abläufen.
- Komplexität: Zu viele oder zu detaillierte Schritte überfrachten den Prozess – das Ziel wird aus dem Blick verloren.
- Unzureichende Freiheitsgrade: Mitarbeitende haben keinen Spielraum für pragmatische Entscheidungen.
- Optimierungen ohne Wirkung: Prozessverbesserungen orientieren sich am falschen Maßstab – etwa an Tools statt an der Realität.
Fehler in Prozessen korrigieren – aber richtig
Die bloße Prozessüberarbeitung reicht nicht. Es geht darum, einen neuen Umgang mit Prozessen zu etablieren:
- Identifizierte Schwächen gezielt beheben – aber mit Augenmaß und Einbindung der Beteiligten.
- Klare Do’s & Don’ts definieren: Was ist verpflichtend, was optional?
- Praxiswissen einholen: Prozesse entstehen nicht am Reißbrett, sondern im Dialog mit den Anwendern.
- Lesbarkeit sicherstellen: Verständliche Sprache, klare Struktur, unterstützende Grafiken – idealerweise mit standardisierter Ikonografie.
- Fehler erklären – ohne Schuldzuweisungen. Nur wer versteht, warum etwas schiefgeht, kann es verbessern.
Prozesse sind formbar – und müssen es auch sein
Ein Prozess ist kein in Stein gemeißelter Kodex. Sondern ein lebendiges System. Daraus folgt:
- Änderungen müssen möglich sein: Prozesse sollten jederzeit angepasst werden können – durch einfache, transparente Änderungsprozesse.
- Alternative Wege vorsehen: Abkürzungen und Sonderpfade sollten ausdrücklich erlaubt und im Prozessdesign berücksichtigt sein.
- Dynamik statt Statik: Mitarbeitende sollen verstehen: Prozesse sind Werkzeuge, keine Fesseln.
- Regelmäßige Prüfung: Prozesse sollten in festen Zyklen – z. B. jährlich oder halbjährlich – auf ihre Wirksamkeit, Relevanz und Verständlichkeit geprüft und ggf. angepasst werden.
Fehlerkultur statt Schuldmanagement
Fehler werden zu oft als Ausnahme behandelt. Dabei sind sie der Normalzustand:
- Fehler sollten erwartet werden – und im Prozess mitgedacht sein.
- Konsequenzen müssen klar, aber konstruktiv formuliert sein – idealerweise direkt im Prozess.
- Schulungen und Kommunikation können Ängste abbauen.
- „Fehler-Awards“ schaffen eine positive Haltung zur Verbesserung: Wer den besten Fehler macht, hat ein Problem sichtbar gemacht, das vorher unsichtbar war.
- Stress durch Prozesse erkennen: Unklare oder überfrachtete Prozesse führen zu Stress bei Mitarbeitenden – was unnötige Fehler geradezu provoziert. Solcher Stress sollte nicht als individuelles Problem, sondern als strukturelles Signal verstanden werden.
Wissen voraussetzen – aber regelmäßig überprüfen
Ein häufiger Grund für scheiternde Prozesse ist fehlendes Hintergrundwissen. Umso wichtiger ist es:
- Vorausgesetztes Wissen regelmäßig zu prüfen – etwa durch kleine Check-ins oder Feedbackrunden.
- Begriffe sauber zu definieren – idealerweise nach Methoden wie der Item-Definition (z. B. „PDF-Definition nach DIN ISO 32000“), damit alle dasselbe meinen.
Realistische Erwartungen an Prozessverantwortliche
Ein oft übersehener Punkt: Prozessverantwortliche leisten viel – aber können auch nicht alles.
- Erwartungshaltungen sollten realistisch sein – niemand kann alle Perspektiven perfekt abbilden.
- Prozesse sollten daher nie als final betrachtet werden – sondern als erste, bewusst unvollkommene Version.
Beispiel: Klemmender Notfallrettungsprozess
In einem Unternehmen wurde ein Evakuierungsprozess entworfen, der nur eine Route vorsah – durch das Haupttreppenhaus. In der Praxis zeigte sich jedoch: Dieses Treppenhaus ist bei Feuer oft nicht passierbar.
Was geschah?
- Mitarbeitende improvisierten – manche warteten zu lange, andere nahmen unbekannte Wege.
- Die Evakuierung dauerte doppelt so lang wie vorgesehen – mit potenziell lebensgefährlichen Folgen.
Lösung:
- Prozess wurde um alternative Fluchtwege ergänzt – visuell und sprachlich klar gekennzeichnet.
- Regelmäßige Übungen und Feedbackschleifen helfen, Verständnis und Routine zu stärken.
- Im Prozess sind heute auch Reaktionen auf unerwartete Blockaden integriert – inklusive „Wenn-dann“-Szenarien.
Fazit: Prozesse müssen leben – und gelernt werden dürfen
Klemmende Prozesse sind kein Zeichen von Inkompetenz – sondern ein Aufruf zur Weiterentwicklung. Wer Prozesse gestaltet, sollte mit Augenmaß vorgehen, Wissen bündeln, Sprache bewusst einsetzen und Fehler als normal ansehen. Nur so entstehen Prozesse, die funktionieren – nicht nur auf dem Papier, sondern in der Realität.
Prozesse sind keine Anleitungen – sie sind kollektive Hypothesen darüber, wie Zusammenarbeit gelingen kann. Und wie jede Hypothese müssen sie überprüft, verändert und manchmal verworfen werden.
Literatur
- Orghandbuch.de (2025). 3.3 Prozessmanagement. Verfügbar unter: https://www.orghandbuch.de/Webs/OHB/DE/OrganisationshandbuchNEU/3_managementansaetze_u_instrumente/3_3_Prozessmanagement/prozessmanagement-node.html
- DER PROZESSMANAGER (2018). Literatur Radar: Über 1000 Bücher zum Thema Prozessoptimierung. Verfügbar unter: https://der-prozessmanager.de/aktuell/publikationen/der-prozessmanager-literatur-radar-2018
- Große Böckmann, Stefan (2025). Prozessmanagement: Erfolgsdeterminanten und Praxisbeispiele. Verlag Dr. Kovač.
- Digitalzentrum Chemnitz (2025). Grundlagen und Einführung eines Prozessmanagements. Verfügbar unter: https://digitalzentrum-chemnitz.de/wissen/grundlagen-prozessmanagement/
- Stöger, Roman (2025). Prozessmanagement: Schlüssel für Digitalisierung und Agilität. Haufe Verlag.