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Europas kulturelle Stagnation: Mein Blick im Lichte Peter Sloterdijks

Wenn ich derzeit auf Europa blicke, spüre ich eine seltsame Mischung aus Resignation und Hoffnung. Es ist, als würde der Kontinent im eigenen, großartigen und vielseitigen Erbe verharren – einerseits stolz1 aber auch beschämt2 auf seine Vergangenheit, andererseits ohne klare Vorstellung von einer kulturellen Zukunft. Die Gedanken Peter Sloterdijks zur „postimperialen Melancholie“ haben mich tief berührt, weil sie etwas in Worte fassen, das ich lange nur gefühlt habe.

Ich nehme Europa oft als einen Raum wahr, der sich selbst überlebt hat – nicht im Sinn des Untergangs, sondern des Stillstands. Es ist, als ob das kulturelle Gedächtnis Europas so voll ist, dass es keinen Platz mehr für neue Erzählungen lässt. Museen, Gedenktage, Festivals der Erinnerung – all das ehrt, was war, aber nur selten belebt es, was sein könnte. Ich frage mich oft: Wo bleibt die kulturelle Vision, die uns nach vorne führt?

Sloterdijks Begriff der postimperialen Melancholie hat für mich eine enorme suggestive Kraft. Er beschreibt keine Depression, sondern eine Art gedämpften Stolz. Europa hat sich nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts auf Selbstkritik, Reflexion und moralische Mäßigung zurückgezogen – und das war für eine gewisse Zeit auch notwendig, fast heilend. Doch inzwischen wirkt es, als sei diese Haltung zur Gewohnheit geworden. Man zieht sich zurück, auch wenn kein akuter Anlass mehr besteht. Man bleibt vorsichtig3, selbst wenn niemand mehr (offen) droht.

Diese Haltung begegnet mir nicht nur in der Politik, sondern auch im kulturellen Alltag. Vieles wirkt abgewogen, korrekt, aber auch kraftlos. Die Sehnsucht nach Tiefe ist da – ich spüre sie in Gesprächen, in Texten, in der stillen, unausgesprochenen Frustration vieler Kulturschaffender. Aber sie mündet selten in eine neue Bewegung. Vielleicht, weil wir nicht mehr wissen, wie man gemeinsam Kultur aufbricht, statt sie nur zu bewahren.

Und doch gibt es Hoffnung.Tolkien, J. R. R.: Der Herr der Ringe. Die Gefährten.

Und dennoch: Trotz allem spüre ich Hoffnung. Vielleicht gerade weil die Lage so ernst ist. Ich glaube, dass in der Melancholie Europas auch ein ungenutztes Potenzial liegt – die Fähigkeit, innezuhalten, sich zu hinterfragen, sich neu zu sammeln. Diese Fähigkeit hat Europa einst groß gemacht, als es noch philosophische, literarische und künstlerische Leitgedanken für die Welt hervorbrachte. Vielleicht kann aus dieser inneren Stille wieder etwas entstehen – etwas, das nicht laut sein muss, um wirksam zu sein.

Sloterdijks Diagnose trifft meinen Nerv

Sloterdijk beschreibt Europas Zustand nach dem Ersten Weltkrieg als einen kulturellen Selbstmord. Europa sei nicht untergegangen, sondern habe sich zurückgenommen – ein Akt der Selbstkritik und Besinnung. Ich empfinde das als einen Akt der Reife, doch gleichzeitig auch als eine Sackgasse. Der Fokus auf Wachheit4 und Selbstreflexion hat Europa vorsichtig gemacht, beinahe zu vorsichtig. Heute wirkt es auf mich, als traue sich der Kontinent nicht mehr, kulturelle Risiken einzugehen5.

Was Sloterdijk analysiert, sehe ich im Alltag bestätigt: Europa betritt keine kulturellen Neulandgebiete mehr, sondern kartiert immer wieder das bereits Bekannte. Die große Geste, der visionäre Entwurf, das künstlerische Wagnis – all das scheint einem Klima der Absicherung gewichen zu sein. Ich frage mich: Wann wurde aus Reflexion Resignation? Wann wurde aus Reife ein Rückzug? Cui bono? Wer profitiert eigentlich von dieser kulturellen Entschleunigung?

Ich spüre, dass Europa sich selbst nicht mehr als Impulsgeber versteht. Statt nach vorne zu drängen, zieht man sich auf eine Position des Beobachtens zurück. Sloterdijk nennt das die „Kultur der Mäßigung“, ich empfinde es zunehmend als eine Form des kulturellen Selbstschutzes. Man will sich nicht mehr exponieren, nicht mehr provozieren, nicht mehr verlieren – und gerade dadurch verliert man sich.

Wer sich nicht auf den Weg macht, wird nie ankommen.Hermann Hesse

Besonders irritierend finde ich dabei, wie sehr diese Haltung mittlerweile zur Norm geworden ist. Wer heute in Europa etwas wirklich Neues, vielleicht auch Anstößiges, zu sagen versucht, läuft Gefahr, zwischen Erwartungshaltung und Missverständnis zerrieben zu werden. Es fehlt nicht nur an Mut, sondern auch an Resonanzräumen für den Mutigen.

Was mich zusätzlich nachdenklich macht: Trotz weitreichender Säkularisierung werden in vielen kulturellen Kontexten noch immer massive religiöse oder weltanschauliche Befindlichkeiten berücksichtigt – mitunter aus einem vorauseilenden Gehorsam heraus. Dabei stellt sich die Frage, ob diese Rücksichtnahme immer gerechtfertigt ist. Wo beginnt der Schutz von Gefühlen, wo endet die Freiheit künstlerischen Ausdrucks? Ich habe den Eindruck, dass aus Angst vor Konflikten allzu schnell auf provokative, aber notwendige Aussagen verzichtet wird – und gerade dadurch ein wichtiges Moment kultureller Relevanz verloren geht.

Sloterdijks Warnung ist für mich deshalb auch ein Weckruf: Wenn Europa kulturell überleben will, muss es wieder lernen, sich aus der Deckung zu wagen.

Europa in der kulturellen Defensive

Ich erlebe Europa oft als Kulturraum in der Defensive – besonders im Vergleich zu den dominanten kulturellen Strömungen aus den USA. Während dort eine unerschöpfliche Selbstverständlichkeit im Umgang mit Popkultur, Medien und Innovation herrscht, habe ich das Gefühl, dass Europa sich in Rücksichtnahmen verliert. Man will niemanden verletzen, man will alles regulieren – und vergisst dabei, auch mal zu provozieren, zu fordern, zu gestalten.

In den USA wird Kultur oft als Teil eines kreativen Wettbewerbs verstanden: Wer neue Formen findet, wer Grenzen überschreitet, wird belohnt – ökonomisch wie symbolisch. In Europa dagegen scheint mir der kulturelle Raum zunehmend normativ: Was gesagt, gezeigt oder geschrieben wird, muss durch Filter aus Korrektheit, Verantwortlichkeit und Vorsicht. Natürlich hat diese Haltung ihre Gründe – historische, ethische, politische. Aber sie erstickt oft den Mut zum Ausdruck.

Ich frage mich, wie eine Gesellschaft künstlerisch lebendig bleiben soll, wenn jede Abweichung als potenziell problematisch gilt. In einer solchen Atmosphäre wird Kultur zur Verwaltung von Bedeutung, nicht zur Erzeugung von Bedeutung. Sie bewahrt, was einst gegolten hat, statt sich aufzumachen, Neues hervorzubringen. Ich sehe das nicht als Versagen Einzelner, sondern als kollektives Unvermögen, mit der Unsicherheit des Neuen zu leben.

Besonders deutlich wird das für mich in der Medienlandschaft: Während US-amerikanische Produktionen global Narrative prägen, ringt Europa oft um Anschlussfähigkeit. Statt eigene kulturelle Selbstverständlichkeit zu entwickeln, orientiert man sich am „Markt“ – an Trends, die anderswo entstehen, anders kulturell sozialisiert sind. Ich frage mich: Warum vertrauen wir unserer eigenen Stimme so wenig? Und warum fällt es uns so schwer, kulturelle Selbstbehauptung nicht als Arroganz, sondern als Notwendigkeit zu begreifen?

Kreativität ohne Resonanz

Mir begegnen in Europa viele kreative Menschen, großartige Ideen, mutige Konzepte. Doch was fehlt, ist die Struktur, die all das zusammenführt. Die Impulse streuen sich, ohne nachhaltige Wirkung zu entfalten. Ich glaube nicht, dass es an der Kreativität mangelt – sondern an der Fähigkeit, diese Kraft in den Raum Europa hinein zu lenken.

Was mich dabei besonders beschäftigt: Kreativität ist da – aber sie wird nicht gehört. Oder wenn sie gehört wird, dann nur lokal, temporär, fragmentiert. Es gibt in Europa keinen durchlässigen Resonanzraum, in dem Ideen aus Helsinki in Lissabon, aus Bukarest in Amsterdam ankommen. Vieles bleibt regional, institutionell oder sprachlich isoliert. Die europäische Bühne existiert, aber sie ist schwer zugänglich und noch schwerer zu bespielen.

Ich sehe einen Mangel an Vermittlung – kulturell, organisatorisch, medial. Es fehlt an Plattformen, die nicht nur repräsentieren, sondern verbinden. Wo wird europäische Kreativität kuratiert, übersetzt, zugänglich gemacht? Wer sorgt dafür, dass nicht nur etablierte Namen, sondern auch unbekannte Stimmen europaweit Gehör finden? Ich habe oft den Eindruck, dass der Kontinent über viel künstlerisches Potenzial verfügt, aber über wenig kulturelle Infrastruktur, um dieses Potenzial auch sichtbar und wirksam zu machen.

Hinzu kommt eine gewisse Förderlogik, die mich oft ratlos zurücklässt: Fördermittel gibt es, doch sie sind selten auf Wirkung ausgerichtet. Vieles zielt auf Projektabschlüsse, kaum etwas auf Aufbau, Verstetigung oder Sichtbarkeit. Statt eine Kultur des Wachstums und der gegenseitigen Inspiration zu fördern, entstehen abgeschlossene Inseln – temporär belebt, dann wieder vergessen. Und genau daran krankt, aus meiner Sicht, der kreative Puls Europas: an fehlender Verstärkung, fehlender Übersetzung, fehlender Ermutigung, sich gegenseitig zu befeuern.

Ich frage mich auch, ob nicht genau jene kulturellen Schulen und Bewegungen fehlen, die einst epochale Wirkung entfalteten – wie der Blaue Reiter oder das Bauhaus. Zentren wie diese waren mehr als nur Netzwerke: Sie waren geistige Anziehungspunkte, schöpferische Magnetfelder. Sie verbanden Theorie und Praxis, Kunst und Gesellschaft, Internationalität und Lokalität. Heute vermisse ich solche Orte. Woran liegt das? Vielleicht an der Angst vor Hierarchie, vielleicht an einem übertriebenen Individualismus, vielleicht auch am Zerfall gemeinsamer ästhetischer Ziele. Oder sind die Räume schlicht nicht mehr bezahlbar? Aber ohne solche konzentrierten Räume kollektiver Innovation bleibt vieles Einzelleistung – brillant, aber folgenlos.

Die EU als Kulturverwalter

Wenn ich an die EU denke, sehe ich weniger einen Kulturförderer als einen Regulator. Programme wie „Kreatives Europa“ sind gut gemeint, doch ich empfinde sie oft als bürokratisch überformt. Es fehlt an strategischer Tiefe und – ja – an Begeisterung. Statt Mäzenatentum herrscht Neid, statt Aufbruch Vorsicht. Der Kontinent hat verlernt, kulturell zu inspirieren.

Ich frage mich oft, warum es Europa nicht gelingt, einen kulturellen Funken zu erzeugen, der über formale Fördertöpfe hinaus Wirkung entfaltet. Vielleicht liegt es daran, dass die Kulturpolitik der EU oft aus der Logik des Ausgleichs operiert: Jeder Mitgliedstaat soll vertreten sein, jede Sprache, jede Region. Das ist nachvollziehbar – politisch, demokratisch, gerecht. Aber kulturell ist es lähmend. Es führt zu Gleichverteilung statt Profilbildung, zu Kompromisskunst statt mutiger Visionen.

Was mir fehlt, ist eine Kulturpolitik mit Haltung – mit ästhetischer Vorstellung, mit kritischem Anspruch, mit Mut zur Provokation. Ich sehe viele Projekte, aber nur wenige Bewegungen. Ich sehe Förderrichtlinien, aber kaum Horizonte. Der Eindruck entsteht: Kultur darf in Europa alles sein – nur nicht unbequem, disruptiv, herausfordernd. Und genau darin liegt, so fürchte ich, ihre politische Unwirksamkeit.

Vielleicht müsste man Kultur in Europa wieder mehr als Dialograum verstehen – nicht nur zwischen Nationen, sondern auch zwischen Generationen, Disziplinen, Weltbildern. Stattdessen wird sie oft verwaltet wie ein Haushaltsposten: korrekt, effizient, kontrolliert. Doch Kultur lebt nicht von Kontrolle, sondern von Irritation, Reibung, Intensität. Wenn die EU diesen Mut nicht findet, bleibt sie Verwalterin dessen, was einmal war – und verliert den Anschluss an das, was noch werden könnte.

Vom Inspirator zum Regulator

Früher war Europa für mich ein kultureller Leuchtturm. Heute sehe ich es mehr als einen Normensetzer. Es geht um Standards, um Rechtskonformität, um Harmonisierung. Das hat sicher seine Notwendigkeit – aber es nimmt dem kulturellen Diskurs die Luft zum Atmen. Europa reguliert mehr, als es inspiriert. Und das spüre ich in meiner eigenen kulturellen Arbeit sehr deutlich.

Ich erlebe oft, wie kulturelle Projekte heute primär entlang von Prüflisten und Zielvereinbarungen konzipiert werden. Man fragt nicht zuerst: Was drängt uns? Was will gesagt werden? Was fehlt im Diskurs? Sondern: Was passt ins Raster? Was lässt sich sauber beantragen? Was ist evaluierbar? Diese Verschiebung des Fokus – weg von Inhalt und Form, hin zu Prozess und Protokoll – verändert die Kultur selbst. Sie wird vorsichtiger, glatter, vorhersehbarer.

Der europäische Raum war einst ein Experimentierfeld. Hier entstanden Denkbewegungen, Kunstströmungen, politische Utopien. Heute wird oft nur noch implementiert, aber kaum noch neu gedacht. Die Angst, Fehler zu machen, scheint größer als der Wille, etwas zu riskieren. Ich verstehe, dass Normen und Standards ein Europa des Ausgleichs und der Fairness sichern sollen. Aber ich frage mich: Was nützt Gleichheit, wenn sie auf Kosten von Ausdruckskraft und Originalität geht?

Ich wünsche mir ein Europa, das wieder inspiriert – nicht durch Vorgaben, sondern durch Vorbilder. Ein Europa, das nicht nur fragt, wie man zusammenarbeitet, sondern wofür. Ein Europa, das kulturell nicht nur integriert, sondern initiiert. Das wäre für mich der Schritt vom Regulator zurück zum Inspirator – und vielleicht der Beginn einer neuen kulturellen Erzählung, die über Verwaltung hinausweist.

Sloterdijks unspektakuläre Tugenden

Sloterdijk spricht von Übung, Disziplin und Stille. Ich schätze diesen Gedanken sehr – gerade in einer lauten, oberflächlichen Welt. Doch gleichzeitig frage ich mich, ob das reicht. Reicht es, still zu werden, wenn der Rest der Welt schreit? Können wir uns mit Innerlichkeit behaupten, wenn es außen tobt? Für mich fühlt sich diese Haltung oft wie eine Bremse an, nicht wie ein Motor.

Die Tugenden, die Sloterdijk hervorhebt, tragen zweifellos eine geistige Würde in sich. Sie erinnern daran, dass Kultur nicht in der Reaktion, sondern in der Haltung entsteht – in der geduldigen Pflege des Denkens, des Sehens, des Hörens. Doch ich frage mich, ob diese Tugenden heute noch gesellschaftlich tragfähig sind. Können sie noch Resonanz erzeugen in einem System, das auf Geschwindigkeit, Sichtbarkeit und Performance getrimmt ist?

Mir fehlt oft der Raum, in dem Übung nicht als Rückzug, sondern als Aufbruch gelesen wird. Wo Disziplin nicht mit Anpassung verwechselt wird. Wo Stille nicht gleichbedeutend mit Bedeutungslosigkeit ist. Ich sehe in Sloterdijks Vorschlag eine wertvolle Gegenbewegung – aber sie bleibt für mich unvollständig, wenn sie sich nicht mit Energie, mit Gestaltungswillen, mit konkreten kulturellen Visionen verbindet.

Vielleicht müsste man sagen: Übung, Disziplin und Stille sind Voraussetzungen – aber keine Antworten. Sie können das Fundament einer neuen kulturellen Bewegung sein, aber sie brauchen Ergänzung: durch Mut, durch öffentliche Präsenz, durch gemeinschaftliche Ausrichtung. Sonst droht diese Haltung, in einer Art elitärer Innerlichkeit zu erstarren – abgewandt, statt wirksam. Und gerade das wäre, in einer Zeit wachsender kultureller Orientierungslosigkeit, ein gefährlicher Verlust.

Generation Z: Eine Generation auf Rückzug

Ich sehe viele junge Menschen, die sich mehr zurückziehen als sich einbringen. Die Generation Z scheint mir kulturell resigniert, oft ohne Anschluss an das europäische Erbe. Das bereitet mir Sorgen. Denn wer die eigene Kultur nicht kennt, kann sie auch nicht weiterentwickeln. Und ohne das Engagement der Jüngeren wird Europas kulturelle Zukunft zu einer Leerstelle.

Natürlich gibt es Ausnahmen – kreative Projekte, digitale Räume, künstlerische Einzelstimmen. Aber als kollektive Bewegung fehlt mir die kulturelle Präsenz dieser Generation. Viele scheinen sich auf einer persönlichen Sinnsuche zu befinden, ohne Anbindung an historische Kontexte oder gesellschaftliche Narrative. Ich beobachte eine Abwendung von Institutionen, eine Skepsis gegenüber tradierten Formen, aber auch ein Gefühl von Überforderung angesichts der Komplexität des kulturellen Erbes.

Vielleicht ist das ein Resultat der Zeit: eine Gesellschaft, die ihren kulturellen Kompass verloren hat, kann ihn schwerlich an die nächste Generation weitergeben. Wenn Europa selbst nicht mehr klar formuliert, wofür es kulturell steht, wie soll eine neue Generation sich damit identifizieren? Ich sehe darin kein Versagen der Jungen – sondern ein Versäumnis der Erwachsenenwelt, Räume für kulturelles Engagement zu schaffen, die offen, relevant und inspirierend sind.

Was ich mir wünsche, ist nicht die Rückkehr zu überkommenen Formen, sondern eine neue Form der Anbindung: an Geschichte, an Sprache, an Kunst als Ausdrucksform von Gegenwart. Ich glaube, dass die Generation Z viel zu sagen hätte – wenn sie gehört, herausgefordert und ermutigt würde. Der kulturelle Rückzug dieser Generation ist für mich kein Desinteresse, sondern ein ungehörter Ruf nach Bedeutung. Und genau diesen Ruf gilt es ernst zu nehmen.

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein

Was mich ebenfalls beschäftigt: Die Dominanz ökonomischer Logik über alles andere. Ich erlebe immer wieder, wie kulturelle Fragen dem Primat der Wirtschaft geopfert werden. Wachstum, Effizienz, Standortlogik – das ist wichtig, ja. Aber Kultur ist mehr als ein Kostenfaktor. Sie ist das, was unserem Leben Sinn gibt, Identität, Tiefe. Wenn Europa hier nicht gegensteuert, verliert es mehr als nur kulturellen Einfluss – es verliert seine Seele.

Ich frage mich oft, wann und warum wir begonnen haben, kulturelle Leistungen nur noch in ihrer Marktfähigkeit zu bewerten. Theater, Literatur, Musik, Bildende Kunst – all das muss heute Wirkung nachweisen, Reichweite erzielen, verwertbar sein, nachhaltig6. Doch Kultur ist kein Produkt wie jedes andere. Sie lebt vom Überschuss, vom Wagnis, vom Nicht-Funktionalen. Ihre Bedeutung bemisst sich nicht in Klickzahlen oder Exportwerten, sondern in der Tiefe ihrer Resonanz.

Kultur ist das, was nicht funktioniert, sondern resoniert.Jean-Luc Nancy

Europa war einmal ein Kontinent, der wusste, dass Geist und Schönheit keine Luxusgüter sind, sondern Grundlagen des Zusammenlebens. Uffizien, Louvre, Museen und Sammlungen zeugen bis heute davon. Heute scheint es jedoch, als hätten wir dieses Wissen verdrängt – im Glauben, dass Ökonomie allein den gesellschaftlichen Fortschritt sichern könne. Aber ein Europa, das Kultur nur als Beiwerk zur wirtschaftlichen Entwicklung versteht, verarmt innerlich. Und diese innere Verarmung ist, so glaube ich, gefährlicher als jede ökonomische Krise.

Ich wünsche mir ein neues kulturelles Selbstbewusstsein – eines, das sich nicht gegen Wirtschaft richtet, aber ihr selbstbewusst zur Seite tritt. Das sagt: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Und: Eine Gesellschaft, die sich nur durch ihre Bilanz definiert, hat keine Geschichte mehr – nur noch Quartalszahlen. Kultur erinnert uns daran, wer wir waren, wer wir sind und wer wir sein könnten. Ohne sie verlieren wir das, was uns im Kern verbindet.

Fazit: Was Europa wieder sein könnte

Für mich ist klar: Europa braucht einen kulturellen Neustart. Es muss sich trauen, wieder Impulsgeber zu sein, nicht nur Verwalter. Es muss Kreativität nicht nur fördern, sondern freisetzen – mutig, widersprüchlich, unvollkommen. Und es muss jungen Menschen Raum geben, ihre eigene Vision von Europa zu entwickeln. Ich glaube, dass darin die eigentliche Erneuerung liegt: In der Rückbesinnung auf das, was Europa einmal war – und der entschlossenen Gestaltung dessen, was es noch sein kann.

Europa war über Jahrhunderte nicht deshalb ein kultureller Leuchtturm, weil es alles besser wusste – sondern weil es bereit war, sich immer wieder infrage zu stellen, zu streiten, zu experimentieren. Diese Offenheit, diese geistige Unruhe, war seine größte Stärke. Heute droht sie, im Technokratentum zu ersticken. Was fehlt, ist nicht Kompetenz, sondern Inspiration. Nicht Kontrolle, sondern Vertrauen in das Unvorhersehbare.

Ich sehe die Chance für ein neues kulturelles Europa dort, wo Menschen sich nicht als Verwalter eines Erbes, sondern als Schöpfer einer Zukunft verstehen. Wo Kunst nicht durch Förderbedingungen geformt wird, sondern durch Dringlichkeit. Wo Bildung nicht nur Wissen vermittelt, sondern Begeisterung entfacht. Und wo Vielfalt nicht nur als politisches Ziel, sondern als schöpferische Ressource verstanden wird.

Gerade diese kulturelle Vielseitigkeit ist Europas größte Stärke – und sollte als lebendiger Schmelztiegel wirken, nicht als trennende Vielfalt. Statt in nationale Eigenheiten zu zerfallen, könnte Europa seine kulturelle Differenz als Quelle kollektiver Kreativität begreifen. Es geht nicht darum, Unterschiede zu nivellieren, sondern darum, sie produktiv aufeinanderprallen zu lassen. In dieser Spannung entsteht Neues – vorausgesetzt, es gibt Räume, in denen diese Vielfalt nicht verwaltet, sondern gelebt wird.

Dazu gehört auch: Europa muss wieder in Kultur investieren – nicht als Luxus, sondern als Überlebensbedingung. Gerade in Zeiten geopolitischer Spannungen und kriegerischer Auseinandersetzungen mag das paradox erscheinen. Doch wenn wir nur auf Verteidigung und Sicherheit setzen, ohne zugleich den kulturellen Sinnhorizont zu pflegen, verlieren wir, was wir eigentlich verteidigen wollen.

Der Durst der Seele wird nicht vom Geld gestillt!agu, 2025

Kultur ist das, was Gesellschaften zusammenhält, was sie erinnert, verbindet und erneuert. Wer hier spart, spart an der Zukunft.

Vielleicht liegt Europas Zukunft gerade in der Anerkennung seiner Fragilität – in der Bereitschaft, nicht alles lösen zu wollen, aber vieles zu beginnen. Nicht lauter zu sein als andere, sondern aufmerksamer. Nicht schneller, sondern tiefer. Für mich heißt das: Europa sollte aufhören, sich kulturell zu rechtfertigen – und wieder anfangen, kulturell zu überraschen.

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