Ist unser Glaube an Besitz ein kollektiver Wahn? Eine radikale Analyse – psychologisch, neurologisch, gesellschaftlich fundiert.
Vom natürlichen Streben zur pathologischen Gier
Ich frage mich oft: Wann wird ein gesundes Streben nach Verbesserung zu einer zerstörerischen Obsession? Wir alle wollen Sicherheit, Komfort und Anerkennung – das ist zutiefst menschlich. Doch Gier geht weiter. Sie ist nicht nur ein „Mehr-Wollen“, sondern ein unstillbarer Hunger, der selbst dann nicht endet, wenn der eigentliche Bedarf längst gedeckt ist. Forschung zeigt, dass Gier mehr ist als simples Eigeninteresse: Sie schädigt andere und damit letztlich das soziale Gefüge, von dem wir alle abhängig sind.
Gier als Teil der Dunklen Triade
Wer gierig ist, bewegt sich psychologisch gesehen nicht im neutralen Raum. Gier reiht sich ein in die Charakterzüge, die man unter dem Begriff „Dunkle Triade“ kennt: Narzissmus, Machiavellismus, Psychopathie. Studien legen nahe, dass Gier mit diesen Eigenschaften einen feindseligen Kern teilt. Sie ist nicht nur eine kleine moralische Schwäche, sondern Ausdruck einer Persönlichkeitsstruktur, die tendenziell manipulativ, egozentrisch und rücksichtslos ist. Die unbequeme Wahrheit: Wer Gier glorifiziert, normalisiert potenziell destruktive Persönlichkeitszüge.
Neurologische Grundlagen der Gier
Gier ist keine abstrakte Idee, sie ist neurobiologisch messbar. Im ventromedialen präfrontalen Kortex, einem Gehirnareal für Belohnung und Entscheidungsfindung, zeigen sich Aktivitätsmuster, die erklären, warum gierige Menschen Risiken anders bewerten. Neurowissenschaftliche Analysen machen sichtbar, wie Gier Verlustaversion mindert: Wer gierig ist, fürchtet Verluste weniger und geht damit unverhältnismäßige Risiken ein. Gier verändert also unsere Fähigkeit zur rationalen Entscheidung. Sie ist ein kognitiver Verzerrungsfaktor, der unser Handeln unberechenbar und potenziell selbstzerstörerisch macht.
Biologie als Fundament – Evolution und Belohnungssysteme
Evolutionär betrachtet hatte Gier ihren Sinn. Wer in Zeiten von Knappheit immer ein bisschen mehr wollte, hatte höhere Überlebenschancen. Heute jedoch stößt diese Logik ins Absurde. Unser Belohnungssystem feuert auch dann, wenn wir längst im Überfluss leben. Besitz aktiviert Dopamin – unabhängig davon, ob er nützlich oder überflüssig ist. Die Biologie kennt kein „Genug“. Wir sind auf Gier programmiert, aber in einer Welt, die längst nicht mehr von Mangel geprägt ist, wird diese Programmierung toxisch.
Von nützlich zu pathologisch – die Kipppunkte der Gier
Die entscheidende Frage lautet: Wann kippt Gier von einer produktiven Kraft in eine zerstörerische Obsession? Ein gewisses Maß an Streben nach mehr kann motivieren, Innovation befördern und sogar gesellschaftlichen Fortschritt ermöglichen. Solange Gier in einem klaren Bezug zu realen Bedürfnissen steht – Nahrung, Sicherheit, Bildung, sozialer Status – wirkt sie regulierend. Doch pathologisch wird sie in dem Moment, in dem der Nutzen den Kontakt zur Realität verliert. Wenn das „Mehr“ nicht mehr aus einer Notwendigkeit heraus entsteht, sondern zur Selbstzweckhandlung wird, entsteht ein psychologischer Bruch. Dann ist nicht mehr das Ziel entscheidend, sondern das unendliche Spiel der Steigerung.
Von real zu virtuell – das Entgleiten des Maßstabs
Noch bedrohlicher wird Gier, wenn sie sich von der realen Welt löst. Früher hieß „Besitz“: ein Haus, ein Feld, Werkzeuge, vielleicht Gold. Heute sind es Zahlen auf Bildschirmen – Kontostände, Aktienkurse, digitale Tokens. In dieser Abstraktion verliert Gier jedes Maß, weil virtuelle Werte grenzenlos skalierbar sind. Ein Konto kann immer noch eine Null mehr tragen, eine Kryptowährung noch eine Ziffer steigen. Der Bezug zum konkreten Nutzen verschwindet. Und mit ihm die Möglichkeit, natürliche Grenzen zu spüren. Wer in dieser Logik gefangen ist, jagt nicht mehr Dingen nach, sondern Illusionen – und das macht die Gier endgültig pathologisch.
Materielle Gier vs. Gier nach Wissen und Erkenntnis
Doch Gier zeigt sich nicht nur im Materiellen. Auch das Streben nach Wissen und Erkenntnis kann pathologische Züge annehmen. Was auf den ersten Blick edel wirkt – die unersättliche Suche nach Wahrheit –, kann ebenso destruktiv sein. Ich kenne Menschen, die in der Jagd nach Informationen, nach immer neuen Erkenntnissen, den Bezug zur Realität verlieren. Sie häufen Bücher, Daten, Theorien, ohne jemals zur Ruhe zu kommen. Auch hier wirkt derselbe Mechanismus: Es geht nicht um Erkenntnis im Sinne von Verstehen, sondern um Sammeln im Sinne von Haben. Die Folge: intellektuelle Überladung, Entfremdung von gelebter Erfahrung, manchmal sogar eine obsessive Fixierung, die sozial isolierend wirkt. Vielleicht ist auch diese Form der „Erkenntnisgier“ ein verkappter Ausdruck derselben Belohnungslogik, die uns materiell ins Verderben treibt.
Gesellschaftliche Kosten: Unethisches Verhalten und Ungleichheit
Gier bleibt niemals privat. Sie wirkt sich unmittelbar auf das soziale Gefüge aus. Gierige Menschen zeigen nachweislich weniger Empathie, mehr Betrugsbereitschaft und eine höhere Neigung, andere zu instrumentalisieren. Untersuchungen deuten darauf hin, dass Gier zu einem Nullsummen-Denken führt: Wenn einer gewinnt, muss der andere verlieren. Diese Logik zerstört Vertrauen, Solidarität und Kooperation – die eigentlichen Grundlagen von Gesellschaft. Wir haben also eine Haltung kultiviert, die systematisch den Kitt unserer Gemeinschaft auflöst.
Wirtschaftlicher Nutzen – aber zu welchem Preis?
Ja, Gier kann kurzfristig Nutzen bringen: Sie treibt Karrieren, steigert Einkommen, befeuert Innovationen. Forschungen zeigen, dass gierige Menschen oft erfolgreicher im Wettbewerb sind. Doch dieser Erfolg ist trügerisch. Denn er basiert nicht auf echtem Fortschritt, sondern auf verschobenen Normen. Fairness wird verzerrt, Kooperation geschwächt, soziale Kohäsion zerstört. Die entscheidende Frage lautet: Wollen wir wirklich eine Gesellschaft fördern, die auf der Pathologie Einzelner aufbaut?
Virtualisierung des Vermögens: Zahlt die Zahl uns krank?
Besitz ist heute oft nur noch Zahl. Aktien, Kryptowährungen, digitale Assets. Ich ertappe mich selbst: Es geht mir nicht um den Gegenstand, sondern um die Zahl, die größer wird. Wir haben uns vom Realen entkoppelt. „In numbers we trust.“ Doch diese Zahlen sind hohl, abstrakt, und sie verführen zu einer endlosen Jagd. Virtuelles Vermögen ist grenzenlos steigerbar – und genau darin liegt die Gefahr. Es kennt kein Maß, keine Grenze, keine Sättigung. Der Mensch wird so zum Sklaven einer abstrakten Metrik.
Gesellschaftliche Nonkonformität – Gier neu bewerten
Wir erzählen uns gern die Geschichte, dass Nonkonformität ein Akt der Freiheit ist. Doch Besitzfixierung ist keine Form von Widerstand, sondern eine Unterwerfung unter den destruktivsten Impuls unseres Nervensystems. Wer sich über Gier definiert, stellt sich nicht gegen das System – er radikalisiert es. Wir brauchen einen neuen Diskurs darüber, was Nonkonformität bedeutet: Solidarität, Verzicht, Kooperation – nicht Anhäufung.
Narzissmus, Schizophrenie, Gier – Gemeinsamkeiten in der Psychopathologie?
Psychologisch betrachtet hat Gier viel gemeinsam mit anerkannten Störungen. Narzisstische Überhöhung, Realitätsverzerrung, zwanghafte Muster – all das findet sich auch bei gierigen Persönlichkeiten. Und doch weigern wir uns, Gier als klinische Abweichung zu klassifizieren. Vielleicht, weil zu viele davon profitieren. Vielleicht, weil unsere Gesellschaft selbst süchtig nach Gier ist – und wer seine Droge liebt, wird sie nicht pathologisieren.
Politische Ämter und Gier – ein Warnsignal?
Wenn Piloten psychologisch getestet werden müssen, um Menschenleben nicht zu gefährden – warum nicht Politiker? Gier ist ein zentraler Risikofaktor für Korruption, Lobbyismus und Machtmissbrauch. Wir vertrauen das Gemeinwohl Menschen an, deren Motivationen wir nicht überprüfen. Das ist naiv, fast schon fahrlässig. In einer Zeit, in der politische Entscheidungen ganze Gesellschaften destabilisieren können, wäre es längst überfällig, Gier als Eignungskriterium mitzudenken.
Gier als reale Gefahr für die Gesellschaft
Finanzkrisen, Umweltzerstörung, soziale Entfremdung – die Ursachen lassen sich oft auf Gier zurückführen. Sie ist kein individuelles Problem, sie ist ein strukturelles Gift. Das eigentlich Verstörende: Wir tarnen sie als Tugend. Wir nennen sie Ehrgeiz, Leistungstrieb, unternehmerischen Mut. Doch in Wahrheit ist sie eine psychische Abweichung, die wir kollektiv verharmlosen, weil sie unser System am Laufen hält.
Fazit: Gier als psychische Abweichung anerkennen
Für mich steht fest: Gier ist mehr als ein moralisches Versagen. Sie ist ein neurobiologisch fundiertes, psychologisch erklärbares, gesellschaftlich destruktives Phänomen. Wir müssen aufhören, sie zu romantisieren. Gier gehört nicht verherrlicht, sondern erkannt, diagnostiziert und reguliert – politisch, pädagogisch, vielleicht sogar therapeutisch.
Erst wenn wir den Wahn durchschauen, Besitz und Wissen wie Trophäen zu horten, können wir verhindern, dass unsere Gesellschaft an ihrer eigenen Maßlosigkeit zerbricht.
Guten Morgen und Kompliment für die Arbeit, diese Erkenntnisse zusammenzutragen und so in diesen Zusammenhängen darzulegen- Chapeou!
„Erst wenn wir den Wahn durchschauen, Besitz und Wissen wie Trophäen zu horten, können wir verhindern, dass unsere Gesellschaft an ihrer eigenen Maßlosigkeit zerbricht.“
Dazu müssen nicht nur einige,
sondern möglichst viele Menschen auf dieser Erde diese Gedanken NACH-Denken können.
Dazu bedarf es Bildung und mindestens 500 Übersetzungen dieses Textes…
1. Axiom der Unmöglichkeit – selbst mit KI und Internet nicht erreichbar, solange Menschen mit Ablenkungen gierig immer noch mehr verdienen als sie zum Leben brauchen…
Ich denke gerade an den Sail GP, Formel 1 auf dem Wasser… oder die Ummenge an Fußballereignissen…
2. „Gesellschaft“ ??? Wer – ist die Gesellschaft ???
Wie wird man Teil davon, warum, weshalb, wielange, — zig Fragen !!!
3. Ein Aspekt der Grenzenlosigkeit ist noch nicht erfasst: er verbirgt sich hinter der REGULIERUNGSWUT.
Ein Teil der Menschen hat gelernt, mit natürlichen Regeln zu leben.
Ein sehr viel größerer Teil lebt und kreiert künstliche Gesetze zum Zusammenleben aller. Und auch diese Grenzenlosogkeit spiegelt die Gier nach Macht wieder, die nicht in materiellen Werten oder Zahlen darzustellen ist.
4. Und letztlich die Frage:
Wenn man „Gier“ als krankhaft, als menschliche Fehlentwicklung oder als natürliche Weiterentwicklung betrachtet, steht dann am Ende wieder der Kanibalismus als grenzgebend im Raum=All???
Die Erde entvölkert, entmenscht + der Natur zurückgegeben?
Oder muß/soll/darf man Gier wie im 3.Reich als “ Andersartig ausmerzen? “
es war ein Start in die Woche – mit vielen Gedanken, die wenig gesundheitsfördern sind…
Ähnlich wie Kneipen (abwechseln kalt und warm wassertretend) bei zu großer Wassertiefe zu ertrinken führen kann…
Ich wünsch allen einen traumhaften Start in die Woche mit hier traumhaften Wetter.
Wolfgang Hubrach
Ich denke, das Erkennen der Pathologie hinter der übertriebenen Gier wäre eine potentielle Lösung für unsere Probleme.