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Kleidung macht Leute – immer noch? Oder nur noch Selfies?

Früher konnte man Menschen an ihrer Kleidung erkennen. Kleidung macht Leute. Heute erkennt man höchstens, wer gerade im Sale bei einer Fast-Fashion-Kette zugeschlagen hat. Der Dreiteiler im Business war mal der Dresscode für Erfolg – heute kann der CEO im Hoodie auftauchen, und niemand wundert sich. Die Grenzen zwischen „altersgerechter“ Kleidung und jugendlichem Stil sind durchlässiger als der Stoff einer löchrigen Jeans. Selbst die Krawatte, einst steifes Symbol für Seriosität und Karriereleiter, hängt nur noch in Schränken, um bei Beerdigungen oder besonders verzweifelten Bewerbungsgesprächen kurz reanimiert zu werden. Sie wirkt im modernen Büro wie ein Faxgerät: technisch noch funktionsfähig, aber gesellschaftlich längst abgeschaltet.

Vom Maßanzug zum Kapuzenpulli – eine stille Revolution

Business war einst eine Bühne, auf der Anzüge, Krawatten und Hochglanzschuhe die Hauptrollen spielten. Wer heute so auftaucht, wirkt eher wie ein Banker aus einer Serie, die vor 15 Jahren abgesetzt wurde. Stattdessen: Hoodie, Sneaker, Jeans mit absichtlichen Löchern – als hätte der Träger den Dresscode wörtlich zerrissen. Der Maßanzug selbst ist auf dem besten Weg, in die Kategorie „Museumsstücke“ zu rutschen, gleich neben den Hutmacherbedarf und die Wählscheibentelefone.

Kleidung als Statussymbol – oder nur noch bequem?

Die Idee, dass Kleidung eine soziale Visitenkarte ist, lebt noch – aber sie hat einen neuen Dialekt. Früher war ein teurer Anzug der Eintritt in die Chefetage, heute ist es der limitierte Sneaker, der auf Instagram besser performt als jede Gehaltserhöhung. Status wird nicht mehr im Stoff, sondern im Story-Format gezeigt. Der Lederschuh mit Spiegelglanz? Sieht inzwischen aus, als wolle jemand besonders stilvoll in den Ruhestand marschieren.

Vom Protest zur Pose

Kleidung war immer auch ein Statement: Lederjacke gegen das Establishment, Punk-Look gegen bürgerliche Langeweile. Doch was passiert, wenn die einst rebellischen Stile im Mainstream landen? Wenn Papa plötzlich die gleiche Destroyed-Jeans trägt wie der 17-jährige Sohn? Dann wird aus Protest Mode – und aus Mode Nostalgie. Selbst das Nietengürtel-Accessoire, einst Garant für Ärger mit der Schulaufsicht, ist inzwischen so zahm, dass es in manchen Boutiquen zwischen Kaschmir und Leinen liegt.

Die rebellionsmüde Jugend

Jugendliche wollen sich abgrenzen – nur womit, wenn die Älteren ihre Symbole klauen? Punk, Grunge, Streetwear – alles schon besetzt von Menschen mit Eigenheim und Bausparvertrag. Die wahre Rebellion könnte heute darin bestehen, konservativ zu wirken: Hemd, gebügelte Hose, vielleicht sogar Krawatte. Ironischerweise ist Spießigkeit jetzt subversiv. Wer heutzutage mit Föhnfrisur, Bügelfalte und Aktentasche auftaucht, wirkt radikaler als der ganze Festival-Schwarm in Crop-Tops und Baggy-Pants.

Tattoos – vom Seemann zum Seniorenrat

Einst waren Tattoos die unverkennbare Marke von Matrosen, Rockern oder knallharten Rebellen. Heute blitzt der Ärmel voller Mandalas und Aquarellrosen auch im Wartezimmer der Hausarztpraxis, getragen von einer 68-jährigen Yogalehrerin aus der Vorstadt. Die Haut als Leinwand hat jede Altersgrenze pulverisiert – vom Babyfußabdruck des Enkelkindes bis zum minimalistischen Schriftzug „Carpe Diem“ am Handgelenk des Geschäftsführers. Was früher ein stilles „Geh nicht zu nah ran“ bedeutete, ist heute eher ein „Frag mich nach der Bedeutung – ich hab Zeit“.

Die Gleichmachung der Garderobe

Ob 20 oder 60, ob Berufseinsteiger oder Vorstand – der Kleidungsstil unterscheidet sich immer weniger. Das kann befreiend sein: weniger Schubladen, mehr Freiheit. Aber es beraubt uns auch der klaren Zeichen, mit denen wir uns in der Gesellschaft verorten. Die Uniform der Gegenwart ist die Abwesenheit einer Uniform – und damit irgendwie auch wieder eine Uniform. Die einzigen Stücke, die noch zuverlässig verraten, wer altmodisch ist? Der Hüftgurt am Rucksack, die gefütterte Weste und der hellbeige Trenchcoat, der mehr Weltkriegsdrama als Fashion-Week ausstrahlt.

Fazit: Kleidung macht Leute – aber auf leisen Sohlen

Ja, Kleidung macht noch immer Leute – nur muss man heute genauer hinschauen, um zu verstehen, wen man vor sich hat. Das äußere Erscheinungsbild ist nicht mehr das eindeutige Etikett, das es einmal war. Und vielleicht ist das gar nicht schlecht: Wir sind mehr als unser Outfit. Aber ganz ehrlich – ein bisschen Spaß am Spiel der Oberflächen darf bleiben. Denn wenn Kleidung nichts mehr bedeutet, wird Mode zur puren Stoffverwertung – und das ist selbst für Minimalisten ein bisschen traurig.

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