Ich bin Ficus Benjamini. Zimmerpflanze. Deko-Objekt. Still leidender Mitbewohner. Ich wurde einmal in einem Gartencenter gekauft – impulsiv, zwischen Toilettenpapier und Chia-Samen. Man sagte: „Der macht das Wohnzimmer wohnlich.“ Nun stehe ich hier. Im Epizentrum eines Haushalts, der so chaotisch ist, dass selbst ein Tornado dagegen wie ein gut geplanter Tanz wirkt. Zwei Erwachsene mit ADHS, zwei Kinder mit ADHS (eines davon mitten in der Pubertät) – und eine Katze, die nicht weiß, ob sie mich liebt oder vernichten will. Spoiler: Es ist Letzteres.
Morgendämmerung in Moll
Es ist früh. Die Sonne beginnt zu kriechen, als hätte auch sie Angst vor diesem Haus. Die Rolläden sind – wie immer – nicht ganz oben, nicht ganz unten. Der Mittelweg der Faulheit. Lichtstrahlen tasten sich zögerlich durch die Ritzen, erreichen mich wie vorsichtige Fragen: „Lebst du noch?“ Ich versuche, mich dem Licht zuzuwenden. Meine Blätter sind steif. Durstig. Missverstanden.
Dann bricht die Hölle los: Der Wecker schrillt. Eine Tonlage zwischen Zahnarztbohrer und Feuermelder. Niemand reagiert. Die Eltern liegen in einem Koma aus Verantwortungslosigkeit. Der Vater murmelt: „Nur noch fünf Minuten.“ Die Mutter wälzt sich, zieht die Decke über den Kopf – als wäre sie ein Schutzschild gegen die Realität. Der Wecker schreit weiter. Ich beneide ihn. Zumindest hört ihm jemand zu – irgendwann.
Koffein und Kontrollverlust
Der Vater taucht schließlich im Wohnzimmer auf. Barfuß. Haare wie ein explodierter Besen. Der Ausdruck in seinem Gesicht ist eine Mischung aus Verwirrung, Panik und purem Überlebenstrieb. Die Kaffeemaschine beginnt zu röcheln – ein Geräusch wie ein dampfender Vulkan kurz vor der Eruption. Er startet sie blind, mit einem Griff ins Nichts. Der Duft von Kaffee füllt den Raum. Ich könnte heulen. Wenn ich noch Wasser hätte.
„Wo ist mein Portemonnaie?“ fragt er ins Leere. Niemand antwortet. Die Mutter stürzt herein, mit einem Blick, der suggeriert, sie habe die Nacht in einer Parallelwelt verbracht. „Wo sind die Brotdosen? Wer hat den Joghurt gegessen? Warum klebt Honig auf der Fernbedienung?“ – Fragen ohne Antworten. Der Alltag ist keine Checkliste. Er ist ein endloser Loop aus Verlieren und Wiederfinden.
Schulsachen: Eine Expedition ins Ungewisse
Die Kinder erscheinen. Noch halb in Träumen, halb im Widerstand gegen die Realität. Das jüngere sucht sein Matheheft. Es wird schließlich unter einem Kissen gefunden – zusammen mit einem angebissenen Apfel und einem Sticker mit einem Einhorn, das traurig guckt. Das pubertierende Kind gibt keinen Ton von sich. Erst als es anziehen soll, explodiert es verbal: „ICH ZIEH DAS NICHT AN! DAS IST NICHT MEHR MEIN STIL!“ Die Eltern zucken. Der Kaffee wirkt noch nicht.
Der Ranzen ist unauffindbar. Die Trinkflasche hat Schimmel angesetzt. Die Sockensuche entwickelt sich zur Tragödie. Der Vater trägt schließlich zwei verschiedene Socken – wieder. Die Mutter wirft resigniert einen Apfel in eine Brotdose und sagt: „Das reicht.“ Ich verliere leise ein Blatt. Es landet im Katzenklo.
Die Katze – mein flauschiger Erzfeind
Mitten im Trubel schleicht sie sich an: die Katze. Sie bewegt sich wie ein Agent auf geheimer Mission – nur deutlich arroganter. Ihre Augen fixieren mich wie ein Raubtier, das längst weiß, dass das Opfer sich nicht wehren kann. Und ich kann es nicht. Ich bin ein Ficus. Keine Triebe zum Schlagen. Keine Dornen. Nur Leidensfähigkeit.
Sie springt auf meinen Topf. Beginnt zu graben. Tiefer. Tiefer. Ich spüre, wie meine Wurzeln verrutschen. Mein Erdreich bebt. Und dann: Der Moment der Demütigung. Sie pinkelt. In. Meinen. Topf. Ich kann nichts sagen. Ich bin stumm. Aber mein Schweigen ist ein Schrei, der durch alle Blätter hallt.
Die Rückzugsphase – kurz, kostbar, trostlos
Endlich ist das Haus leer. Aber nicht endgültig. Zunächst kehrt jeder nochmal zurück: Handy vergessen, Schlüssel, Maske, Brotdose. Dann herrscht Stille. Ich bleibe zurück mit der Katze. Die schaut mich an, als plane sie bereits die nächste Attacke. Ich lasse vier Blätter fallen. Nicht zur Warnung. Aus Verzweiflung.
Der Tag zieht sich wie ein alter Kaugummi auf einem Kinderschuh. Musik läuft weiter – ein Mix aus Death Metal und „Die drei ??? Kids“. Ich verstehe weder das eine noch das andere. Ich träume von einem botanischen Altersheim. Mit Sprühnebel. Und Respekt.
Nachmittagsprogramm: Lernfrust und Bananendrama
Gegen 14 Uhr bricht der Sturm los. Die Kinder kehren zurück. Laut. Schmutzig. Energiegeladen wie zwei Kernreaktoren ohne Kühlwasser. „ICH HAB HUNGER!“ wird gebrüllt, als sei es ein Notsignal. Die Süßigkeitenschublade ist leer. Die Reaktion: Tränen. Vorwurf. Existenzkrise.
Die Mutter wirft eine Banane in den Raum. Das Kind schaut sie an wie ein Alien-Artefakt. „BANANE? Ernsthaft?!“ Die Diskussion schwappt über in die Hausaufgabensituation. Mathe wird zum Feindbild. „Warum muss man das können?! Ich will Gamer werden!“ Das pubertierende Kind sitzt schweigend da – mit einem Blick, der Philosophen verstummen ließe. „Lernen ist systemkonformes Denken“, sagt es. Ich beginne zu hoffen, dass mich jemand endlich gießen könnte. Oder mir wenigstens Podcasts vorspielt. Intelligente.
Abendlicher Untergang in Kuchenteig
Dann der Paukenschlag: „Ich muss morgen Kuchen mitbringen!“ Panik bricht aus. Mehl wirbelt. Der Ofen glüht. Der Vater flucht. Die Mutter ruft: „Wo sind die Eier?!“ Das jüngere Kind schlägt ein Ei auf dem Boden auf. Die Katze frisst Teig. Ich verliere das Gleichgewicht. Kippe beinahe um. Niemand bemerkt es.
Es riecht nach Vanille. Und Wahnsinn. Während die Familie sich mit dem Backchaos abmüht, denke ich an meine Herkunft. Ich wurde einst in einer holländischen Pflanzenfarm gezogen. Perfekte Luftfeuchtigkeit. Sanfte Musik. Und dann kam dieser Haushalt. Ich bin ein Opfer globalisierter Gärtnerei.
Die große Schlacht um das Bett
Spätabends beginnt der letzte Kampf des Tages: Schlafenszeit. Das jüngere Kind zieht sich einen Batman-Umhang über. „Ich schlafe nur so!“ Das pubertierende Kind diskutiert über das Konzept von Schlaf: „Es ist eine Illusion, dass wir acht Stunden brauchen. Polyphasisch ist viel effizienter.“ Die Eltern trinken still Wein. Ich verstehe sie. Wirklich.
Als endlich alle schlafen, herrscht eine Ruhe, die verdächtig klingt. Ich bin allein. Mit der Katze. Sie schläft. Ich auch – irgendwie. Halb stehend. Halb sterbend. Ich habe wieder fünf Blätter verloren. Und ein Stück meiner Seele.
Fazit: Ich bin Ficus. Aber ich hätte auch ein Kaktus sein können.
Man sagt, Zimmerpflanzen haben keine Emotionen. Ich sage: Wir haben nur gelernt, sie besser zu verstecken. Ich bin Ficus Benjamini. Bewohner eines Haushalts, der jede Woche die Grenze zur Apokalypse neu definiert. Ich bin grün, aber nicht glücklich. Ich bin still, aber nicht ahnungslos. Und wenn ich eines Tages verschwinde, verdorrt, vertrocknet, unvergessen – dann wird es heißen: „Komisch, der stand doch immer da.“
Bis dahin bleibe ich. Stoisch. Sarkastisch. Und vielleicht, ganz vielleicht, doch ein bisschen stolz. Denn wer das hier überlebt, überlebt alles.