Früher war Samstagabend eine verlässliche Institution: Fernseher an, Chips auf den Tisch, und dann hieß es „Wetten, dass..?“. Millionen Menschen schauten dasselbe Programm, lachten über dieselben Pannen, staunten über dieselben Promis. Heute dagegen: Der eine binget eine dystopische Sci-Fi-Serie, die andere hört einen True-Crime-Podcast, wieder andere scrollen durch Reels. Jeder lebt in seiner eigenen Medienwelt – und mit der gemeinsamen Wissensbasis verschwindet auch ein Stück kulturelles Zusammengehörigkeitsgefühl.
Die Macht des linearen Fernsehens
Das klassische Fernsehen war mehr als nur Unterhaltung. Es war ein sozialer Kitt. Wenn am Montag im Büro jemand fragte: „Hast du das gestern gesehen?“, wusste jeder, was gemeint war. Formate wie die „Tagesschau“, große Shows oder Serienhighlights erzeugten gemeinsame Bezugspunkte. Es waren Gesprächsthemen, soziale Brücken, kulturelle Marker. Lineares Fernsehen zwang zur Gleichzeitigkeit – und diese Gleichzeitigkeit schuf Gemeinschaft.
Diese Art des kollektiven Erlebens ist nahezu verschwunden. Heute ist niemand mehr „gleichauf“ – jeder schaut, wann und was er will. Der Algorithmus ersetzt das Fernsehprogramm, der „For You“-Feed löst das große Publikum in Milliarden Mikro-Interessen auf. Das war einerseits Befreiung von Einheitsbrei, andererseits der Beginn einer tiefen Fragmentierung.
Radio – die erste gemeinsame Playlist
Vor Spotify, Apple Music oder YouTube war das Radio der Ort, an dem Musikgeschmack geformt wurde. Ganze Generationen verbanden Sender wie SWR3, NDR2 oder Bayern 3. Wenn dort ein neuer Song in die Rotation aufgenommen wurde, kannten ihn bald alle. Chartshows bestimmten die Gesprächsthemen auf dem Schulhof, und Sommerhits wurden zum kollektiven Soundtrack ganzer Lebensabschnitte.
Mit dem Aufkommen von Streamingdiensten verlor auch das Radio seine verbindende Kraft. Heute hören Menschen Playlists, die niemand sonst kennt, von Algorithmen maßgeschneidert nach individuellen Vorlieben. Das klingt nach Fortschritt, ist aber zugleich ein schleichender Abschied von geteilten musikalischen Erfahrungen. Ein „Lieblingssong des Sommers“ existiert schlicht nicht mehr, weil jeder einen anderen Sommer hört.
Streaming als Kulturzentrifuge
Streaming hat das Narrativ individualisiert. Während früher ARD oder ZDF den kulturellen Kanon vorgaben, definieren heute Netflix, TikTok und YouTube ihn neu – oder fragmentieren ihn vollständig. Jeder findet „seine Nische“ und glaubt dadurch, mehr Vielfalt zu erleben. Doch in Wahrheit findet Entkopplung statt: Man lebt in Subkulturen, die kaum noch Überschneidungen haben.
Was früher kulturelle Synchronität war, wird heute zu Parallelrealitäten. Algorithmen optimieren nicht auf Gemeinschaft, sondern auf Bindung an Plattformen. Die Folge ist ein digitaler Tribalismus, in dem kollektives Wissen nur noch in Teilmengen existiert – und selbst Ereignisse von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung erreichen kein gemeinsames Publikum mehr. Die eine Hälfte lacht über Memes auf TikTok, die andere sieht politische Satireshows, aber kaum jemand konsumiert beides.
Der Small Talk stirbt leise aus
Was banal klingt, hat soziale Sprengkraft. Small Talk basiert auf gemeinsamem Wissen. Wenn niemand mehr dieselben Serien sieht, dieselben Songs hört oder dieselben Schlagzeilen liest, wird das spontane Gespräch zum sozialen Minenfeld. Man weiß nicht mehr, worauf sich der andere bezieht. Die Frage „Hast du gesehen…?“ verliert ihre Selbstverständlichkeit.
Diese Sprachlosigkeit ist mehr als eine Anekdote. Sie verändert, wie Menschen soziale Nähe empfinden. Geteilte Erlebnisse sind Grundlage für Vertrauen, Empathie und Humor. Wenn sie fehlen, entstehen Distanz und Missverständnisse. Vor allem jüngere Generationen, die mit personalisierten Feeds aufgewachsen sind, kennen die Erfahrung gemeinsamer Medienmomente kaum noch. „Lagerfeuerkultur“ war einmal.
Verlust kollektiver Orientierung
Mit der Auflösung gemeinsamer Wissensbestände verschiebt sich auch, was wir für „allgemein bekannt“ halten. Früher war klar, welche politischen oder kulturellen Ereignisse in der Öffentlichkeit besprochen wurden – weil sie allen bekannt waren. Heute existieren parallele Informationswelten, in denen unterschiedliche Realitäten gelten.
Das hat Folgen: Der gesellschaftliche Diskurs verliert an Kohärenz. Fakten werden relativ, Wahrheit zur Ansichtssache. Wenn das gemeinsame Fundament an Wissen und Tradition verschwindet, wird Verständigung schwieriger. Der öffentliche Raum – einst durch Medien vermittelt – zerfällt in Blasen. Das betrifft nicht nur Unterhaltung, sondern auch Politik, Wissenschaft, Geschichte.
Von der Gemeinschaft zur Community
Interessanterweise ersetzt das Internet die verlorene Gemeinschaft nicht etwa durch völlige Isolation, sondern durch neue Formen digitaler Zugehörigkeit. Menschen finden online ihre Nischen-Communities – Fans, Gleichgesinnte, Memekulturen. Doch diese Zugehörigkeit bleibt meist oberflächlich und volatil. Man ist verbunden über Hashtags, nicht über gelebte gemeinsame Erlebnisse.
Diese Verschiebung verändert die Struktur sozialer Bindungen. Während klassische Medien Gemeinschaften entlang regionaler, kultureller und altersbezogener Linien prägten, bilden sich heute fragmentierte „Tribes“: Anime-Fans, Crypto-Enthusiasten, Vanlife-Hippies. Sie alle haben intensive Binnenkommunikation, aber kaum noch Kontakt zu anderen kulturellen Räumen. Damit verschwinden Brücken zwischen den Blasen – und der gesellschaftliche Dialog verdunstet.
Neue Rituale im digitalen Zeitalter
Dennoch: Menschen suchen weiterhin nach Gemeinschaftserlebnissen. Heute sind es Serienfinals, Live-Streams oder Game-Releases, die für kurze Zeit das Gefühl eines „Wir“ erzeugen. Fußball-Weltmeisterschaften oder ESC-Abende schaffen es gelegentlich, Millionen vor denselben Bildschirm zu bringen – doch das sind Ausnahmen in einem Meer der Fragmentierung.
In sozialen Netzwerken entstehen pseudo-lineare Erlebnisse: Wenn ein virales Video oder ein Meme Millionen erreicht, ist das fast so, als würden wir gleichzeitig etwas erleben. Aber dieser Effekt ist flüchtig. Er ersetzt keine dauerhafte kulturelle Basis. Er amüsiert, verbindet kurz – und verpufft.
Das Ende der Zufälligkeit
Streaming hat nicht nur die Gemeinschaft, sondern auch die Zufälligkeit abgeschafft. Früher stolperte man durch das Radioprogramm oder Zappen über Neues, das man sich nicht ausgesucht hätte – und genau das erweiterte den Horizont. Heute kennt der Algorithmus nur noch „mehr von dem, was du magst“ – was eigentlich heißt: weniger Überraschung, weniger Widerspruch, weniger Reibung.
Doch Kultur lebt von Reibung. Ohne sie wird sie steril, selbstbezogen, langweilig. Die Abschaffung des Zufalls ist die Abschaffung des kulturellen Zufallsfundes – und mit ihm verschwindet eine Quelle kollektiver Inspiration. Wenn niemand mehr zufällig dasselbe entdeckt, gibt es auch keine kollektiven Entdeckungen mehr.
Was bleibt – und was wir verlieren
Der Wandel ist irreversibel. Niemand wird das Radio oder lineares Fernsehen in ihrer alten Bedeutung zurückbringen. Aber man kann verstehen, was verloren geht: die gemeinsame Erfahrung, der soziale Kitt, das Gefühl, Teil einer gemeinsamen Erzählung zu sein. Kultur wird privatisiert, Wissen fragmentiert, Identität individualisiert.
Doch vielleicht liegt auch darin eine Chance: in der bewussten Wiederentdeckung kollektiver Rituale. Vielleicht ist es an der Zeit, wieder gemeinsam zu schauen, zu hören, zu sprechen – nicht, weil man muss, sondern weil man will. Das gemeinsame Lagerfeuer mag heute digital brennen, aber die Sehnsucht danach ist dieselbe geblieben.
Wer sie spürt, kann sie nutzen: für neue Formen von Öffentlichkeit, für Diskussionen über Grenzen von Algorithmen hinaus, für eine digitale Kultur, die weiß, was sie teilt – nicht nur, was sie streamt.
Lesetipps:
FAZ: Warum wir keine gemeinsame Medienerfahrung mehr haben
Süddeutsche: Die fragmentierte Gesellschaft durch Streaming
Zeit Online: Wie Algorithmen den Zufall abschaffen
