Die Kessler-Zwillinge Alice und Ellen, einst gefeierte Entertainerinnen und Ikonen des deutschen Showbusiness, sind nun auch zu zentralen Figuren einer intensiv geführten Debatte um das Recht auf selbstbestimmtes Sterben geworden. Ihr gemeinsamer Freitod hat tiefgreifende Diskussionen um die ethischen, moralischen und rechtlichen Aspekte der begleiteten Sterbehilfe in Deutschland ausgelöst.
Die Kessler-Zwillinge – große Künstlerinnen und moralische Wegweiser
Alice und Ellen Kessler waren jahrzehntelang Publikumslieblinge, bekannt für ihre tänzerischen und schauspielerischen Leistungen durch die Nachkriegszeit bis in die Gegenwart. Ihre Entscheidung, gemeinsam aus dem Leben zu treten, war eine Ausdrucksform tiefer Lebensfreude, Verbundenheit und Selbstbestimmung. Sie planten ihren Abschied mit großer Sorgfalt und Würde, was deutlich macht, dass es ihnen um mehr als einen simplen Suizid ging – es war ein bewusstes, gemeinsames Arrangement mit Unterstützung von Ärzten und Sterbehilfe-Vereinen.
Warum das Thema begleitetes Sterben so stark emotionalisiert
Das Thema begleitetes Sterben trifft bei vielen Menschen auf tiefe emotionale und moralische Resonanz, weil es elementare Fragen menschlicher Existenz berührt: Autonomie, Leid, Würde und letztendlich auch den Umgang mit der eigenen Endlichkeit. Die Entscheidung der Kessler-Zwillinge, als lang verbundene Schwestern gemeinsam aus dem Leben zu scheiden, wirft Fragen darüber auf, wie weit individuelle Freiheit reichen darf und wo gesellschaftliche sowie ethische Grenzen liegen.
Das Thema triggert vor allem, weil es mit Vorstellungen von Verlust, Angst vor dem Tod und kulturell tief verankerten religiösen und sozialen Normen kollidiert, die das Leben als heilig betrachten. Die Furcht vor Missbrauch und die Komplexität der individuellen Lebenssituationen machen eine einfache Antwort unmöglich.
Fehlende gesetzliche Grundlage: Bremsklotz Religion und Angst vor Missbrauch
Obwohl das Bundesverfassungsgericht 2020 das Recht auf selbstbestimmtes Sterben und die ärztliche Unterstützung dabei bestätigte, fehlt in Deutschland nach wie vor eine klare gesetzliche Regelung zur Sterbehilfe. Dies führt dazu, dass Menschen wie die Kessler-Zwillinge nur begrenzten legalen Handlungsspielraum haben, und viele Betroffene ins Ausland ausweichen müssen.
Ein wesentlicher Grund für das Fehlen solcher Gesetze ist der bremsende Einfluss religiöser Institutionen, die das Leben als unantastbar und von Gott gegeben ansehen. Zusätzlich gibt es große Befürchtungen vor Missbrauch und die Schwierigkeit, ein rechtliches System zu schaffen, das einerseits Freiwilligkeit, Reife der Entscheidung und geistige Klarheit zuverlässig prüft und andererseits Missbrauch effektiv verhindert.
Die Säkularisation in Deutschland wurde formal zwar umgesetzt, ist jedoch bis heute nicht abgeschlossen. Trotz eines deutlichen Rückgangs religiöser Bindungen und einem wachsenden Trend zur weltanschaulichen Neutralität des Staates behalten religiöse Vorstellungen und Machtstrukturen weiterhin großen Einfluss, besonders auf politische und ethische Entscheidungsprozesse. Dieses Unvollständige der Säkularisierung verstärkt den Einfluss religiöser Institutionen in sensiblen gesellschaftlichen Fragen wie der Sterbehilfe.
Leider sind wir auch in der gesellschaftlichen und medialen Debatte oft so geprägt, zuerst das Schlechte, also den möglichen Missbrauch sehen zu wollen, statt den tatsächlichen Leidensdruck der Betroffenen in den Vordergrund zu rücken. Dieses Problem wird durch die Negativ- und Klickkultur der heutigen Medienlandschaft noch verstärkt, welche tendenziell kontroverse und dramatische Aspekte hervorhebt, damit aber eine ausgewogene und empathische Auseinandersetzung erschwert.
Möglichkeiten zur Regulierung: Anwaltliche Begleitung und Mehraugenprinzip
Da ein freiwilliges Lebensende nie eine spontane Entscheidung sein sollte, greifen viele Vorschläge für eine gesetzliche Regelung auf ein Mehraugenprinzip zurück, ähnlich wie bei der Hirntoddiagnostik vor Organtransplantationen. Dies beinhaltet eine unabhängige Prüfung der Entscheidungsfähigkeit und der Umstände, die zum Sterbewunsch führen.
Die Begleitung durch anwaltliche und ärztliche Stellen könnte gewährleisten, dass die Entscheidung wohlüberlegt, ohne Druck und mit maximaler Transparenz getroffen wird. So könnte verhindert werden, dass Befindlichkeiten oder äußere Zwänge – etwa soziale Isolation oder finanzielle Not – falschen Einfluss auf diese lebensverändernde Entscheidung nehmen.
Ars Vivendi und Ars Moriendi als Menschenrechte
Im Kern der Debatte steht die Forderung, dass neben dem Recht auf Leben auch das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben – das ars moriendi – als unveräußerliches Menschenrecht anerkannt wird. Ebenso wichtig ist das ars vivendi, die Kunst, das Leben mit Würde und Sinn zu gestalten. Beide Aspekte sind eng miteinander verbunden und sollten gesellschaftlich und rechtlich als gleichwertig respektiert werden.
Die Kessler-Zwillinge haben mit ihrem gemeinsamen Abschied eindrucksvoll gezeigt, dass Sterben mehr als ein medizinischer Vorgang ist: Ein Akt von Würde, persönlicher Freiheit und auch Zuneigung. Ihre Entscheidung fordert die Gesellschaft heraus, menschliche Begriffe von Leben und Tod neu zu denken und gesetzliche Klarheit zu schaffen, die den Menschen mit ihren Bedürfnissen und Ängsten ins Zentrum stellt.
Quellen:
Merkur – Das freie Recht auf Sterben: Tod der Kessler-Zwillinge löst Debatte aus
Frankfurter Rundschau – Tod der Kessler-Zwillinge: Keine Normalität
MDR – Debatte über Sterbehilfe und Suizid-Prävention nach Tod der Kessler-Zwillinge
