Es gibt Dinge, die Energie verschwenden: Standby-Geräte, alte Kühlschränke, oder schlecht gedämmte Häuser. Und dann gibt es „Political Correctness“. Jenen unsichtbaren Dauerstrom, der über den mentalen Zähler läuft, sobald man versucht, in einer Diskussion weder als Nazi noch als Sozialromantiker zu enden – je nachdem, in welchem Teil des Internets man gerade gestrandet ist.
Texte formulieren? Früher war das ein Prozess aus Gedanke → Satz → Punkt. Heute ist es ein Dreischritt aus 30% Idee, 30% Umsetzung und 40% diplomatischer Feinarbeit. Letzteres bedeutet, jedes Wort durch den kollektiven Empörungsscanner zu ziehen, emotional zu polieren und zu hoffen, dass kein Satz versehentlich ein „Trigger“ ist. Rechtschreibfehler sind heute weniger schlimm als falsche Adjektive. Ein „falsches“ Wort kann in Social-Media-Zeiten tödlicher sein als ein Stromschlag beim Toasterauswechseln.
Gespräche als mentale Hochleistungsdisziplin
Das gleiche gilt für Gespräche. Man unterhält sich kaum noch – man spielt simultan Schach, Jenga und Minenräumen. 30% Inspiration, 30% spontane Formulierung und 40% Unterdrückung des Impulses, auf offensichtliche Dummheit ehrlich zu reagieren. Wer dazwischen noch charmant lächelt, darf sich auf einen mentalen Burnout freuen. Das „Oh Gott, sag jetzt bloß nichts Falsches“-Zentrum im Gehirn ist der wahre Muskelkater der Moderne.
Früher konnte man an Stammtischen wenigstens noch was riskieren – der schlimmste Shitstorm kam vom Wirt. Heute geht’s um soziale Vernichtung in Echtzeit. Ein falscher Satz und du bist wahlweise „rechts“, „links“ oder „toxisch“. Dass „Meinungsfreiheit“ und „soziale Zugehörigkeit“ gegeneinander gearbeitet haben, wird gern vergessen. Wer dazugehören will, spricht weichgespült. Wer ehrlich ist, steht schnell allein da – höchstens begleitet von einem Algorithmus, der ihn fortan ignoriert.
Das neurodivergente Hamsterrad
Für neurodivergente Menschen ist diese ganze soziale Tretmühle kein Tanz, sondern olympischer Zehnkampf. Jedes Gespräch wird zum Multitasking zwischen Impulskontrolle, Lösungsvarianten und Alternativvorschlägen. Im Kopf läuft die Gleichung ständig mit: „Sag ich das jetzt so, wie’s logisch und effizient wäre, oder so, dass’s keiner falsch versteht?“ Beides gleichzeitig zu leisten, kostet rund 300% der zulässigen Tagesenergiezufuhr.
Was eigentlich eine simple Antwort sein könnte – „nein, das ergibt keinen Sinn“ – muss erst durch fünf Schichten sozialen Filters. „Hmm, interessanter Gedankengang, aber lass uns kurz prüfen, ob das in allen Kontexten so tragfähig ist.“ Klingt höflich, ist aber geistiger Hochleistungssport. Kein Wunder, dass viele Abende damit enden, stumm auf den Kühlschrank zu starren und zu überlegen, ob man sich seinen Energiehaushalt nicht doch lieber spart, indem man einfach gar nichts mehr sagt.
Ist’s das wert?
Also: lohnt sich dieser energetische Spagat wirklich? Ist der Schutz sozialer Bindungen das wert, wenn man dafür innerlich verbrennt wie ein schlecht gewarteter Dieselmotor? Wahrscheinlich ja – leider. Denn Akzeptanz ist der soziale Zucker, von dem wir alle abhängig sind. Selbst die, die sagen, ihnen sei egal, was andere denken, wollen zumindest dafür bewundert werden. Aber der Preis steigt. Jede Interaktion ist heute eine Rechenaufgabe mit hohem Strombedarf: „Wie halte ich Sympathie, Wahrheit und Ruhe gleichzeitig stabil?“
Man kann die Effizienz dieser Kommunikation im Vergleich zu früher etwa so beschreiben: Früher war’s Holzofen, heute Smart Home mit 27 Apps, die alle gleichzeitig abstürzen. Sicherer, sauberer – aber anstrengend wie nie.
Das politische Leben als Endgegner
Im politischen Leben ist diese Kunst der Energielenkung allerdings noch einmal potenziert – hier trennt sich die Spreu vom Weizen. Wer glaubt, Smalltalk im Büro koste Nerven, sollte mal versuchen, eine diplomatische Antwort auf eine unklare Frage bei „Anne Will“ zu geben, während Twitter gleichzeitig Liveticker spielt. Hier entscheidet sich, wer ein diplomatisches Genie à la Hans-Dietrich Genscher ist – oder eben ein symbolischer Praktikant im politischen Maschinenraum wie Friedrich Merz, der zwischen Statement und Stolperdraht-Pressezitat kaum unterscheiden kann.
Worte werden hier zu Präzisionswerkzeugen: ein falsch gesetzter Halbsatz kann Kabinettskarrieren beenden oder Koalitionen kippen. Und wer in diesem Dauerstress noch spontan, ehrlich und menschlich bleiben will, betreibt Hochleistungspolitik auf Kalorienbasis.
Politische Sprache ist längst kein Ausdruck von Ideen mehr, sondern von Energiehaushalten – wenige schaffen’s, die Balance zu halten, ohne innerlich auszubrennen oder im Empörungskessel zu verpuffen.
Der Geist des Diogenes von Sinope
Und da wären wir bei Diogenes von Sinope. Er hätte mit Political Correctness nichts anfangen können. Der Typ lebte in einer Tonne, urinierte öffentlich und sagte, was er dachte – Punkt. Für ihn war soziale Akzeptanz so irrelevant wie Schuhgröße beim Marathon. Das war seine Freiheit. Heute wäre er instant gecancelt – oder, noch schlimmer, ein Meme. Man würde ihn in Talkshows einladen, um ihn zu „kontextualisieren“. Seine Tonnenphilosophie würde in TED-Talks verwässert: „Wie du mit Minimalismus und Unhöflichkeit dein wahres Selbst findest.“
Aber Diogenes’ Haltung ist eine Frage, die uns heute brennt: Wieviel Wahrhaftigkeit ist uns der soziale Frieden wert? Wenn jede Meinung vorab sterilisiert wird, bleibt irgendwann sterile Kommunikation übrig. Alle reden, keiner meint was. Jeder nickt, niemand glaubt’s. So erzeugen wir gesellschaftliche Harmonie – auf Kosten der Authentizität. Ein Sieg der Etikette über den Inhalt, ein Sieg des formatierten Denkens.
Die Höflichkeitsökonomie
Man könnte Political Correctness auch als neue Währung sehen: Höflichkeit als soziale Investition. Wer brav formuliert, wird geliked, wer zu direkt ist, verliert Ansehen. Alles funktioniert, solange wir Energie nachliefern. Aber wehe, der Akku ist leer. Dann kommen die ehrlichen Sätze raus – roh, kurz, effektiv – und meist zerstörerisch. Es ist paradox: je netter wir kommunizieren wollen, desto mehr Energie braucht es. Nettes Sprechen ist die SUV-Kommunikation unter den sozialen Fahrweisen: sieht sauber aus, verbraucht aber brutal viel.
Vielleicht ist Höflichkeit nicht falsch, aber ineffizient. Wenn das Ziel echter Verständigung wäre, würde man Missverständnisse riskieren. Stattdessen optimieren wir für Imagepflege. So entstehen Gesprächslandschaften, in denen alle „richtig“ reden und sich trotzdem keiner verstanden fühlt. Ein humorloser Stillstand in schöner Sprache.
Zwischen Wahrheit und Wohlgefallen
Die Grenze zwischen Takt und Täuschung verschwimmt. Wer Wahrheit ausspricht, gilt schnell als aggressiv; wer sie meidet, als angepasst. Ironischerweise schafft genau diese Unsicherheit das, was Political Correctness eigentlich verhindern wollte: Spannungen. Eine Welt voller Menschen, die Angst haben, falsch zu klingen, produziert nicht weniger Konflikte, sondern andere – leisere, verbissene, unterhalb der Oberfläche. Die Energie, die wir sparen könnten, indem wir ehrlich wären, geht in diese Geräuschlosigkeit verloren.
Vielleicht einfach mal die Tonnenzeit wieder
Vielleicht wäre ein bisschen Diogenes gar nicht schlecht. Weniger Rücksicht, mehr Rückgrat. Weniger formale Balanceakte, mehr aufrichtiges Stolpern. Natürlich würden wir damit anecken – aber wenigstens echt. Eine Gesellschaft, die sich von jedem scharfen Wort bedroht fühlt, hat ein Nervenkostüm wie nasses Klopapier. Vielleicht sollte man nicht immer nur an der Verpackung feilen, sondern am Inhalt arbeiten. Denn Energie sparen geht auch im Kopf – z. B. indem man sich traut, etwas direkter zu sein.
Fazit – Der Energiewandel der Kommunikation
Wir reden von Wärmewende, Verkehrswende, Energiewende – Zeit für eine Kommunikationswende. Weniger Feinschliff, mehr Substanz. Weniger Verbiegung, mehr Richtung. Und vielleicht ab und zu den Mut, Dinge zu sagen, die nicht jedem gefallen, aber echt sind. Die Welt braucht keine noch höflicheren Debatten – sie braucht wieder Gesprächspartner mit Rückgrat, nicht mit Energiesparmodus.
Insofern: Politische Korrektheit ist vielleicht sozialer Strom, aber kein nachhaltiger. Die Menschheit hat sich schon immer weiterentwickelt – nicht durch Wohlgefallen, sondern durch Reibung. Vielleicht sollten wir uns also trauen, wieder etwas weniger korrekt – und dafür etwas lebendiger – zu sein.
