Die neue EU-Richtlinie NIS-2 (Netzwerk- und Informationssystemsicherheit) ist da – und mit ihr sollen die Sicherheit und Widerstandsfähigkeit von „kritischen Infrastrukturen“ gestärkt werden. Doch während die Theorie hochgesteckte Ziele verkündet, bleiben die Fragen:
- Was ändert sich in der Praxis tatsächlich?
- Wer genau wird geschützt?
- Und welche Realitäten verbergen sich hinter den politischen Entscheidungen, die zu NIS-2 führten?
Die NIS-2: Ein Überblick
NIS-2 zielt darauf ab, die Sicherheitsstandards und die Zusammenarbeit bei Cybersicherheitsvorfällen innerhalb der EU zu verbessern. Die Vorgaben richten sich insbesondere an Betreiber kritischer Infrastrukturen, zu denen Bereiche wie Energieversorgung, Gesundheit, Verkehr und Finanzen zählen.
Neu ist vor allem die Erweiterung des Geltungsbereichs: Wo die ursprüngliche NIS-Richtlinie noch auf eine eingeschränkte Anzahl von Sektoren fokussiert war, erfasst NIS-2 nun mehr Sektoren und Unternehmen – wenn sie eine bestimmte Größe und Relevanz erreichen.
NIS-2 verpflichtet Unternehmen zur Umsetzung von Cybersicherheitsmaßnahmen und erlegt ihnen eine Meldepflicht für Sicherheitsvorfälle auf. Die Sanktionen bei Verstößen sind drastisch: Bei Nichterfüllung drohen hohe Bußgelder, und das nicht nur für das Unternehmen, sondern auch für die verantwortlichen Führungskräfte.
Doch was bedeutet das in der Praxis? Ist dies ein echter Sicherheitsfortschritt oder lediglich eine bürokratische Hürde mit gutem Willen und hoher Kostennote?
Cybersicherheit im Praxistest: NIS-2 als neue Bürokratie?
Die Einhaltung von NIS-2 soll Cybersicherheitslücken schließen und Vorfälle besser bewältigen – soweit der Plan. Aber lässt sich Cybersicherheit allein durch Regularien und Pflichten erreichen?
In der Praxis bedeutet NIS-2 für viele Unternehmen eine gewaltige Belastung. Unternehmen müssen umfassende Risikobewertungen und Schutzmaßnahmen ergreifen, Meldeprozesse aufbauen und Sicherheitsberichte erstellen. Doch dabei stellt sich die Frage: Kann man Cybersicherheit in Vorschriften zementieren und auf Aktenstapeln ablegen?
Cyberangriffe sind hochdynamisch und entwickeln sich oft schneller als die gesetzlichen Maßnahmen. Das Hauptrisiko liegt darin, dass NIS-2 Unternehmen zu einer „Checklistensicherheit“ zwingt, in der die Erfüllung der Pflichten als das ultimative Ziel gesehen wird – eine Vorstellung, die wenig mit der Realität moderner Bedrohungen zu tun hat. Und vor allem: Hat ein System, das sich auf starre Vorgaben stützt, tatsächlich die Flexibilität, auf neuartige Bedrohungen zu reagieren?
Die Lücken im System: Wen schützt NIS-2 wirklich?
Eine interessante Facette von NIS-2 ist das bewusste Aussparen verschiedener Bereiche. Unternehmen aus bestimmten Sektoren werden, abhängig von ihrer Größe und Relevanz, vom Regularium ausgeschlossen. Kleine Unternehmen oder solche außerhalb der „kritischen Infrastruktur“ genießen damit „Narrenfreiheit“ in Sachen Cybersicherheit – und das trotz ihres möglichen Risikos als Einfallstor für Angriffe auf größere Organisationen. Wird das der intensiven Vernetzung der Firmen und auch Behörden auch nur ansatzweise gerecht?
Indem bestimmte Unternehmen aus der NIS-2-Verpflichtung ausgeschlossen werden, entstehen gravierende Schwachstellen. Cyberkriminelle könnten gezielt auf diese „unbeaufsichtigten“ Sektoren setzen und sich Zutritt zu größeren Systemen verschaffen.
Hier stellt sich die Frage, ob die Abgeordneten, die diese Entscheidungen getroffen haben, die potenziellen Auswirkungen tatsächlich verstanden haben – oder ob der politische Kompromiss zur Abgrenzung bestimmter Bereiche einen blinden Fleck im System geschaffen hat.
Können unsere Abgeordneten die digitale Bedrohung verstehen?
Ein Blick auf die politische Verantwortung hinter NIS-2 bringt ein unangenehmes Thema ans Licht: das fehlende technologische Verständnis der politischen Entscheider. Die wenigsten Abgeordneten haben eine Ausbildung im IT-Bereich, geschweige denn tiefere Kenntnisse in Cybersicherheit oder gar Erfahrung im Bereich Hacking und digitaler Bedrohungen.
Hier stellt sich die Frage: Ist es realistisch, von Personen, die kaum mit den technologischen Details vertraut sind, fundierte Entscheidungen zur nationalen und europäischen Cybersicherheit zu erwarten? Hierzu auch mein Beitrag zur Laiendemokratie.
Viele dieser Entscheidungsträger sind in einer Zeit aufgewachsen, in der das Wort „Cyber“ bestenfalls futuristisch klang, aber nicht die essenzielle Infrastruktur eines Staates umfasste. Ein Großteil ihrer Ausbildung liegt fernab der modernen IT-Komplexitäten.
Der politische Druck, die Cybersicherheit zu stärken, führte zum Erlass von NIS-2 – aber bleibt fraglich, ob diese Maßnahme mehr als eine gutgemeinte Antwort auf ein Problem ist, das unsere politischen Systeme kaum durchdringen können.
NIS-2: Kostentreiber oder echter Schutz?
Ein häufiger Vorwurf an NIS-2 ist der hohe Aufwand und die damit verbundenen Kosten. Kritiker argumentieren, dass die Richtlinie vor allem als Instrument der Wirtschaftsförderung für die Cybersicherheitsbranche fungiert.
Die Umsetzung der Richtlinie erfordert Investitionen in IT-Infrastruktur, Beratungsdienstleistungen und Schulungen – eine lukrative Perspektive für Anbieter von Sicherheitslösungen.
Diese Kostenfrage wirft Zweifel an der Motivation hinter NIS-2 auf: Steht die Richtlinie wirklich im Dienst der Cybersicherheit oder ist sie eine kommerzielle Welle, die einige Branchen wirtschaftlich stärkt?
Für kleinere und mittelständische Unternehmen könnten die zusätzlichen Ausgaben existenzbedrohend sein, was möglicherweise weniger Cybersicherheit, sondern primär die Befüllung öffentlicher Kassen fördert.
Fazit: Schöne Theorie, wacklige Praxis
NIS-2 ist zweifellos ein ambitionierter Schritt in Richtung Cybersicherheit – auf dem Papier. In der Praxis bleibt es jedoch fraglich, ob das Reglement mehr als bürokratische Last bedeutet. Die Regelung blendet zahlreiche Unternehmen aus und lässt so gefährliche Schlupflöcher offen. Die Frage, ob politische Entscheidungsträger in der Lage sind, den wahren Umfang des Problems zu erfassen, bleibt bestehen. Und schließlich drängt sich der Verdacht auf, dass die Umsetzung von NIS-2 weniger dem Sicherheitsgedanken als den kommerziellen Interessen dient.
Wenn NIS-2 erfolgreich sein soll, muss es als mehr als nur eine Checkliste angesehen werden. Es braucht kreative und flexible Sicherheitsansätze, die über das sture Abarbeiten gesetzlicher Vorgaben hinausgehen – und vor allem das Wissen und Verständnis derjenigen, die unsere Cybersicherheit regulieren.
- Informationen zur NIS-2-Richtlinie:
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