Kaum ein politischer Begriff wird in Deutschland so leichtfertig und gleichzeitig so heftig diskutiert wie jener des „Unrechts„. Besonders die DDR wird oft als „Unrechtsstaat„ bezeichnet – meist mit der rhetorischen Endgültigkeit eines Gerichtsurteils. Doch wer den Begriff genauer betrachtet, merkt schnell: Diese Zuschreibung ist weit weniger eindeutig, als sie auf den ersten Blick scheint.
Recht, Gerechtigkeit und Moral – ein schwieriges Dreieck
Um über „Unrecht„ zu sprechen, muss man zunächst verstehen, was „Recht„ bedeutet. Juristisch gesehen ist Recht das, was gilt: Gesetze, die vom Gesetzgeber geschaffen und vom Staat durchgesetzt werden. Es ist eine objektive Größe.
Daneben existiert der Begriff der Gerechtigkeit – etwas ganz anderes. Gerechtigkeit ist ein moralisches Ideal, das subjektiven Vorstellungen unterliegt: Was der eine als gerecht empfindet, kann der andere als empörend wahrnehmen. Zwischen beiden bewegt sich die Ethik, die als gesellschaftliches Regulativ fungiert – sie steuert, was als moralisch korrekt empfunden wird, ohne dass Verstöße rechtlich sanktionierbar wären.
Unrecht wäre juristisch betrachtet also ein Handeln, das gegen geltendes Recht verstößt. Doch das führt zu einem logischen Dilemma: Wenn ein Staat selbst die Gesetze definiert, kann dann innerhalb dieser Ordnung überhaupt Unrecht im juristischen Sinne entstehen? Oder anders gefragt: Wenn Unrecht nicht das Brechen des Gesetzes ist, sondern das Gesetz selbst das Problem darstellt – wie bewertet man dann Systeme wie die DDR?
Die DDR zwischen Legalität und Legitimität
Die Gesetze der DDR wurden von der Volkskammer beschlossen, also formal von einem staatlichen Parlament. Doch der demokratische Prozess war höchstens formal vorhanden. Die führende Rolle der SED war in der Verfassung verankert. Wahlen dienten mehr der Bestätigung als der Auswahl. Damit stellt sich nicht nur die Frage, ob die Gesetze der DDR „richtig„ waren, sondern ob sie überhaupt legitim waren – also auf einem gesellschaftlich anerkannten Prozess der Willensbildung beruhten. Das ist durchaus zu bezweifeln.
Manche Bestimmungen1 der DDR waren darüber hinaus in ihrer Intention und Wirkung menschenverachtend – und damit weit jenseits dessen, was in zivilisierten Gesellschaften als rechtmäßig gelten kann. Ein Blick auf einige ausgewählte Paragrafen zeigt das deutlich.
§ 106 – Staatsfeindliche Hetze
Seit 1968 galt in der DDR der Paragraf 106 des Strafgesetzbuches. Wer „die sozialistische Ordnung verächtlich machte„ oder „den Staat der Arbeiter und Bauern herabwürdigte„, musste mit mehrjährigen Haftstrafen rechnen. In der Praxis war der Tatbestand erschreckend dehnbar: Schon das Verteilen regierungskritischer Flugblätter, der Kontakt zu westlichen Journalisten oder ein kritischer Witz konnten ausreichen, um als „staatsfeindlich„ zu gelten. Aber Achtung: hier sind wir schon in einer Auslegung!
Dieser Paragraf war ein direkter Angriff auf die Meinungsfreiheit, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als Grundrecht verankert ist. Der Staat kriminalisierte damit nicht Handlungen, sondern Haltungen. Reine Gedanken wurden zu Verbrechen gemacht. Es ist schwer, eine deutlichere Abkehr vom Prinzip individueller Freiheit zu finden.
§ 213 – Ungesetzlicher Grenzübertritt
Das Verlassen der DDR ohne Genehmigung war offiziell eine Straftat – mit Gefängnisstrafen bis zu acht Jahren. Selbst gescheiterte Fluchtversuche zogen harte Konsequenzen nach sich. Hinter diesem Paragrafen stand die Überzeugung, dass der Staat über den Körper seiner Bürger verfügen könne. Doch das Prinzip der Bewegungsfreiheit gilt seit 1948 als unveräußerliches Menschenrecht. Wer in einem Land aufgewachsen ist, in dem ein Urlaubsantrag an sich ein politischer Akt sein konnte, weiß, wie sehr Gesetz und Legitimität hier auseinanderfallen.
§ 219 – Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit
Dieser Paragraf wurde zum Werkzeug gegen künstlerische und kirchliche Gruppen, gegen Dissidenten, Intellektuelle und jene, die versuchten, gesellschaftlichen Raum jenseits des SED-Korsetts zu schaffen. Unter dem Deckmantel des Schutzes der Gesellschaft kriminalisierte der Staat freie Assoziation – ein Kernrecht moderner Demokratien. Gesetzlich gedecktes Unrecht in seiner reinsten Form.
Das Grenzgesetz von 1982 – die Legalität der Gewalt
Am 25. März 1982 verabschiedete die DDR das Grenzgesetz, das explizit den Waffeneinsatz zur Sicherung der Staatsgrenze legitimierte – der berüchtigte „Schießbefehl„. Soldaten waren verpflichtet, die Grenze „unter allen Umständen„ zu sichern. Tödliche Gewalt war damit kein Versehen, sondern einkalkulierte Option. Schon bei seiner Verabschiedung war das Gesetz ein klarer Bruch des Völkerrechts, ein Angriff auf das Recht auf Leben und Bewegungsfreiheit. Es legalisierte das Töten Unbewaffneter aus Gründen der Staatsräson – ein Akt, der moralisch, rechtlich und menschlich unhaltbar ist.
Die DDR-Verfassung von 1968 – Recht im Dienst der Macht
Die 1968 in Kraft gesetzte, 1974 geänderte Verfassung der DDR definierte die „führende Rolle der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands„ in Artikel 1. Damit war das Ende der Gewaltenteilung besiegelt. Die sogenannten „Grundrechte„ waren ausdrücklich an die sozialistische Ordnung gebunden – sie galten nur, solange sie dieser nicht widersprachen. Wer sich auf sie berief, brach bereits damit das System, das sie gewährte. Der Staat nutzte das Recht nicht zum Schutz des Bürgers, sondern zur Sicherung seiner Macht.
Unrecht im Recht – wie funktioniert das?
Man könnte sagen: Das eigentliche Unrecht der DDR lag nicht darin, dass ihre Bürger Gesetze brachen, sondern dass ihre Gesetze die Bürger brachen. Dennoch bleibt die Frage: Reicht das aus, um von einem „Unrechtsstaat„ zu sprechen? Juristisch ist der Begriff schwammig. Er suggeriert eine klare Trennlinie zwischen Recht und Unrecht, wo es in der politischen Realität meist Grauschattierungen gibt.
Auch im heutigen Deutschland wurden und werden Gesetze erlassen, die später als moralisch oder rechtlich fragwürdig gelten – vom Strafrecht über Abtreibung bis zur Behandlung Homosexueller in den 1950er Jahren. War die Bundesrepublik in diesen Phasen deshalb ebenfalls ein Unrechtsstaat? Offensichtlich nicht. Es zeigt: Moralische Urteile über vergangene Systeme sagen oft mehr über die Gegenwart ihrer Urheber aus als über das historische Objekt selbst.
Gerechtigkeitssinn und Alltagsrealität
In der DDR lebten rund 17 Millionen Menschen. Die große Mehrheit wollte schlicht ein normales Leben führen – arbeiten, lieben, auf Urlaub fahren, die Kinder großziehen. Für viele funktionierte der Alltag durchaus gut. (Fast) Null Arbeitslosigkeit, niedrig(st)e Mieten2, funktionierende Kinderbetreuung, Gesundheitssystem und sehr gutes Bildungssystem3 hatten einen großen Beitrag daran.
Die meisten juristischen Verfahren – Diebstahl, Körperverletzung, familiäre Streitigkeiten – orientierten sich durchaus an Vorstellungen von Gerechtigkeit. Hier herrschte kein Chaos, keine Willkür, sondern meist ein pragmatisches Rechtssystem innerhalb der staatlichen Vorgaben.
Doch die Grenzen dieses Systems zeigten sich dort, wo Politik begann. Wer zu laut fragte, wer zu weit dachte oder zu offen sprach, wurde vom Recht zum Feind erklärt. Das unterscheidet einen autoritären Staat von einem Rechtsstaat: Nicht die Abwesenheit von Gesetzen, sondern deren instrumenteller Gebrauch gegen die eigene Bevölkerung.
Aber machen wir uns nichts vor, die DDR bestand nicht aus 17 Millionen Dissidenten! Nicht 17 Millionen DDR-Bürger wurden (direkt) überwacht – das wäre bei ca. 120.000 inoffiziellen Mitarbeitern der StaSi und den damaligen technischen Gegebenheiten kaum möglich gewesen. Heutige Technik erlauben Google & Co. jedoch fast 100%ige Überwachung!
Moralische Urteile – rückblickende Schieflagen
Die moralische Bewertung der DDR bleibt heikel. Sie wird aus heutiger Perspektive vorgenommen – mit dem Wissen um das Ende der Geschichte und dem moralischen Selbstverständnis eines westlich-liberalen Zeitgeistes. Doch Moral ist kein universelles Messinstrument. Sie ist immer Kind ihrer Zeit. Das gilt für die Bürger der DDR ebenso wie für ihre Kritiker.
Viele waren durch Erziehung, Bildung und Alltag geprägt, dachten und handelten in einem anderen Wertehorizont. Ihnen daraus rückblickend einen moralischen Vorwurf zu machen, verkennt diese soziale Realität. Diese Missachtung der verschobenen Wertehorizonte sind übrigens auch ein Nährboden für AfD-Affinität!
Auch im Westen formten Narrative das Bewusstsein. Die DDR galt als Bedrohung, als Gegenentwurf, als Negativfolie der eigenen Freiheit. Beide Seiten betrieben „Brainwashing„ – ideologische Selbstvergewisserung durch Abgrenzung. Wahrheit war nie absolut, meist ein Ergebnis der jeweiligen Perspektive. Die moralische Bewertung der DDR-Gesetze erfolgt daher oft aus der „Sieger-Sicht„ – mit dem selbstverständlichen Gestus, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen.
Das Paradox der Aufarbeitung
Wer die DDR einfach zum „Unrechtsstaat„ erklärt, trennt Vergangenheit von Gegenwart, als ließe sie sich moralisch abwaschen. Doch Recht und Unrecht sind keine statischen Kategorien, sondern Teil eines historischen Prozesses. Aufarbeitung bedeutet nicht, mit Pathos zu urteilen, sondern zu verstehen – die Mechanismen, die Menschen dazu brachten, Unrecht zu akzeptieren oder zu verteidigen, und die Strukturen, die es ermöglichten. Nur so vermeiden wir, ähnliche Mechanismen in neuer Form zu wiederholen.
Das Ziel sollte weniger die moralische Verurteilung als die Erkenntnis sein. Denn Unrecht entsteht nicht nur in Diktaturen. Es beginnt dort, wo Recht aufhört, den Menschen zu schützen – wo Gesetze nicht mehr Ausdruck des Gemeinwohls sind, sondern Werkzeug der Kontrolle. Auch das heutige Rechtsverständnis ist nicht immun gegenüber dieser Gefahr.
Schlussfolgerung: Das Vermächtnis des Begriffs
Vielleicht liegt die eigentliche Ironie des Begriffs „Unrechtsstaat„ darin, dass er selbst juristisch unbrauchbar, aber politisch höchst wirksam ist. Er markiert Distanz, zieht eine Linie, schafft Klarheit, wo in Wahrheit Ambivalenz herrscht. Die DDR war ein Staat mit Gesetzen – viele davon repressiv, einige gerecht, alle abhängig von einer Ideologie, die sich selbst als unfehlbar verstand. Unrecht war nicht ihr Ausnahmezustand, sondern ihre Struktur. Und doch bleibt die pauschale Etikettierung unbefriedigend: Sie ersetzt das Verstehen durch das Urteilen.
Wer über das Unrecht der DDR spricht, sollte deshalb auch über die Bedingungen nachdenken, unter denen Recht zu Unrecht wird – gestern wie heute. Denn die entscheidende Frage lautet nicht: War die DDR ein Unrechtsstaat? Sondern: Wie verhindern wir, dass sich Recht jemals wieder gegen die Menschen richtet, die es schützen soll?
Gerade deshalb braucht der politische Diskurs Sorgfalt. Wer – wie zuletzt einige Politiker, darunter auch Markus Söder – mit Begriffen wie „Unrechtsstaat„ leichtfertig umgeht, beschädigt damit nicht die DDR allein, sondern das Bewusstsein für Geschichte insgesamt. Diese Vokabel ist kein Schlagwort für Empörungspolitik, sondern eine historische Diagnose, die Differenzierung verlangt. Wer sie inflationär gebraucht, erreicht genau das Gegenteil: Er verharmlost das tatsächliche Unrecht, das Menschen erfahren haben, und offenbart im besten Fall Unwissenheit, im schlimmsten Fall Ignoranz gegenüber unserer Geschichte – und, noch gravierender, gegenüber der Zukunft dieses Landes.
Sprache schafft Realität. Wer Begriffe entleert, untergräbt das Vertrauen in politische Wahrhaftigkeit. Die Verantwortung der Politik besteht nicht darin, Schlagzeilen zu produzieren, sondern Begriffe zu bewahren, die Gewicht haben. Der Umgang mit der DDR-Geschichte ist kein Werkzeug der Gegenwartspolitik, sondern ein Prüfstein historischer Reife. Nur wer versteht, kann verhindern, dass sich Geschichte auf neue Weise wiederholt.
Quellen: Bundeszentrale für politische Bildung, Stiftung Aufarbeitung, Verfassung der DDR (1968/1974), Strafgesetzbuch der DDR (1968), Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948)
