a number of owls are sitting on a wire

Beton: Renovierung in die Vergangenheit

Normalerweise geht es hier um Impulse, Perspektivwechsel, manchmal ein wenig Provokation. Um Gedanken, die andocken, sich weiterdrehen, vielleicht auch widersprochen werden wollen.

Doch dieser Beitrag ist stiller. Persönlicher. Er beginnt dort, wo das Denken nicht mehr bloß intellektuell ist, sondern körperlich spürbar. Eine Mauer, ein Blick, eine Irritation – und plötzlich steht nicht mehr die Analyse im Vordergrund, sondern das Innehalten.

Es ist ein Text über Beton. Und über das, was sich nicht in Beton gießen lässt.

Regelmäßig fahre ich an ihr vorbei. Meist, wenn ich etwas Profanes zu erledigen habe – Einkäufe, Besorgungen, ein Termin, der mich nicht weiter beschäftigt. Dann zieht sie an mir vorbei: die Mauer. Oder besser gesagt: das, was von ihr übrig ist. Oder jetzt wieder nicht – seit Kurzem sieht sie anders aus.

Strahlender Himmel, wie damals
Strahlender Himmel, wie damals

Die jahrzehntealten Betonelemente, die so viel Geschichte in sich trugen, wurden ersetzt. Weg mit der Patina, dem Moos, den Rissen. Stattdessen stehen nun frisch gegossene, glatte, beinahe glänzende Betonplatten an ihrer Stelle. Sie wirken beinahe stolz, aufrecht, neu. Sie wirken – und genau das ist es, was mich beschäftigt.

Architekturdetail - potentiell blutig
Architekturdetail – potentiell blutig

Ein Echo der Errichtung

Ich kann nicht anders, als mir vorzustellen, dass sie schon einmal so aussah. Damals, bei ihrer ersten Errichtung. Auch da war der Beton frisch, der Blick ungewiss, der Zweck eindeutig. Die Mauer war nie nur ein Bauwerk. Sie war Grenze, Symbol, Drohung. Und obwohl wir die alten Fotos heute fast nur in Schwarz-Weiß kennen – die Zeit selbst war es nicht. Die Welt hinter der Mauer war nicht grau, sie war grell: mit Sirenen, Scheinwerfern, Schüssen.

Wer mag alles an dieser Mauer vorbeigegangen sein? Flaneure, Patrouillen, Kinder mit ihren Eltern. Manche warfen vielleicht einen flüchtigen Blick – aus Neugier, aus Angst, aus Trotz. Andere vermieden ihn bewusst. Freiheit lag jenseits, und genau das machte sie so unerreichbar. Stattdessen gab es hier: Gewalt, Leid, Tod. Und dennoch: das Leben ging weiter – auf beiden Seiten.

Auch Frauen und Kinder - auf beiden Seiten
Auch Frauen und Kinder – auf beiden Seiten

Der Beton glänzt wieder

Heute glänzt der Beton wieder. Nicht, weil er geschliffen wurde – sondern weil er neu ist. Und gerade das irritiert. In seiner glatten Perfektion wirkt er fast unberührt von Geschichte. Als hätte es all die Jahrzehnte nicht gegeben. Als wolle er vergessen machen, was war – oder schlimmer: als sei es nie gewesen.

Alt und neu
Alt und neu

Doch so leicht lässt sich Geschichte nicht tilgen. Sie haftet nicht nur am Material. Sie sitzt tiefer, in Gedanken, in Blicken, in Körpern. Und auch wenn wir glauben, wir sähen die Vergangenheit in verblichenem Schwarz-Weiß, war ihr Erleben immer farbig. Hell, laut, brutal, real. Wie das Jetzt, in dem ich mit meinem Auto an der frisch renovierten Mauer vorbeifahre – und mich plötzlich nicht mehr nur in der Gegenwart befinde.

Fluchtgedanken zu jeder Zeit
Fluchtgedanken zu jeder Zeit

Was bleibt, wenn alles neu ist?

Renovierung heißt wörtlich: „erneuern“. Doch was wird erneuert, wenn es um ein Symbol wie diese Mauer geht? Ihre Substanz – ja. Aber auch ihr Bild? Ihr Kontext? Ihr Mahncharakter? Ich frage mich, ob nicht gerade das Abgelebte, Rissige, von Moos Überwachsene mehr Wahrheit transportiert als jeder frische Anstrich. Ob nicht die sichtbare Vergänglichkeit uns ehrlicher erinnert an das, was war – und was nie wieder sein darf.

Vergangenheit nur im Bild
Vergangenheit nur im Bild

Und dennoch: Auch der neue Beton erzählt. Vielleicht eine andere Geschichte. Eine, die vom Wiederaufbau handelt. Vom Umgang mit Erinnerung. Von der Schwierigkeit, zwischen Bewahrung und Erneuerung zu entscheiden. Vielleicht ist der neue Glanz gar kein Vergessen – sondern ein Anlass, wieder hinzusehen. Und nachzudenken.

Ein Blick, der bleibt

Der Blick, den ich werfe, wenn ich an der Mauer vorbeifahre, ist heute ein anderer als noch vor Wochen. Die renovierte Oberfläche zwingt mich förmlich dazu, mich mit der Tiefe zu beschäftigen. Der Kontrast zwischen dem Glanz des Betons und der Schwere der Geschichte ist so stark, dass er fast körperlich spürbar wird.

Unsichtbar von der anderen Seite
Unsichtbar von der anderen Seite

Und so ist sie noch da – die Erinnerung. Nicht mehr in Rissen und Moos. Sondern in der Irritation, die das Neue auslöst. In der Frage, was wir sehen, wenn wir hinsehen. In der Erkenntnis, dass Geschichte nicht vergeht, nur weil ihr Äußeres sich wandelt.

Was bleibt, ist Verantwortung.

Vielleicht ist es das, worum es letztlich geht: nicht nur um das Sichtbare, das Greifbare – sondern um das, was es in uns auslöst.

Ein neuer Beton, glatt und makellos, kann irritieren. Weil er vergessen lässt, was einmal war. Weil er überdeckt, was nicht überdeckt werden darf. Und genau das ist der Moment, in dem Erinnerung neu beginnt – nicht in den Rissen des Alten, sondern in der Verstörung durch das Neue.

Denn dieser Ort, über den hier geschrieben wird – es ist das ehemalige Konzentrationslager Dachau.

Ein Ort des Grauens, des Unvorstellbaren, des systematisch organisierten Menschheitsverbrechens. Und zugleich ein Ort, der nie neutral sein darf. Nie beliebig, nie bequem.

Gerade jetzt nicht.

Nicht in einer Zeit, in der Politiker wieder „wohltemperierte Grausamkeit“ einfordern, in der das Wort „Remigration“ durch die Straßen hallt und ein Teil der Gesellschaft laut denkt, was früher nur im Verborgenen geflüstert wurde. Wer heute von einer „180-Grad-Wende“ in der Erinnerungspolitik spricht, meint nicht weniger als das: das Tilgen. Das Relativieren. Das Umschreiben.

Doch Geschichte lässt sich nicht neu gießen wie Beton. Sie bleibt – in Narben, in Stimmen, in Mahnmalen. Und in unserer Verantwortung.

Denn Vergangenheit war nie grau. Sie war laut, grell, brutal – so farbig wie das Leben selbst. Und gerade deshalb dürfen wir nicht abstumpfen, wenn das Neue glänzt. Sondern müssen hellwach bleiben.

Wer hier vorbeigeht – oder wie ich: vorbeifährt – kann und darf nicht einfach weiter. Denn mit jedem Meter, mit jedem Blick stellt sich dieselbe Frage: Was tun wir mit dem Erbe? Mit der Erinnerung? Mit der Verantwortung?

Erinnerung ist keine Kulisse. Sie ist Auftrag. Und sie beginnt oft genau dort, wo uns das scheinbar Harmloseste – eine frisch gegossene Betonplatte – plötzlich den Atem stocken lässt.

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