Erasmus von Rotterdam hätte über unsere Gegenwart wohl gelächelt – und zugleich den Kopf geschüttelt. Sein Werk „Lob der Torheit“ aus dem Jahr 1509, formal eine Satire, ist in Wahrheit ein messerscharfer Spiegel menschlicher Eitelkeit und intellektueller Selbstüberschätzung. Und erstaunlich, wie aktuell dieser Spiegel geblieben ist.
Die Rückkehr der Torheit
Erasmus ließ in seiner Schrift die personifizierte Torheit selbst das Wort ergreifen. Sie verkündet stolz, dass ohne sie „Götter und Menschen nicht heiter und fröhlich sein könnten“ – und dass Dummheit eigentlich die Triebfeder menschlicher Gesellschaft sei. Wer ihr heute zuhört, mag an Social-Media-Kommentare, politische Talkshows oder selbstzufriedene Podiumsdiskussionen denken. Die Torheit ist zurück – und sie trägt Glitzer.
Doch im Unterschied zur Renaissance hat sie heute keine Ironie mehr nötig. Was bei Erasmus noch subversive Selbstbespiegelung war, ist im 21. Jahrhundert zur Attitüde geworden: Man trägt seine Meinung wie ein T-Shirt und verwechselt Lautstärke mit Klarheit. Zeiten, in denen man Zurückhaltung übte oder die eigene Uninformiertheit als Makel empfand, sind vorbei. Der neue Mut zur Dummheit – die Verwechslung von Dreistigkeit mit Haltung – ist zur gesellschaftlichen Tugend avanciert.
Die feine Klinge und der Vorschlaghammer
Erasmus war ein Meister der feinen Klinge, ein Humanist durch und durch, der lieber mit Spott als mit Dogma stritt. Sein „Lob der Torheit“ war nie bloßer Hohn, sondern immer auch Selbstkritik. Er kritisierte den Klerus, aber auch die philosophische Eitelkeit seiner Kollegen, und blieb dabei immer ein Freund des mahnenden Lächelns.
Martin Luther dagegen, der „Prophet mit dem Hammer“, verehrte Erasmus’ geistige Eleganz, konnte sie aber nicht teilen. Als es um die großen theologischen Fragen ging – Willensfreiheit, Gnade, Wahrheit – brach Luther mit dem Intellektuellen aus Rotterdam. Wo Erasmus das Gespräch suchte, schlug Luther Thesen. Wo der eine schrieb, dass „ein wenig Torheit“ das Leben erträglicher mache, hörte der andere nur Halbherzigkeit.
Vielleicht braucht die Gegenwart tatsächlich wieder einen solchen Luther. Die fein gesäuberte Torheit, die sich als Ironie tarnt, hat Konjunktur: eloquent, moralisch, meist im Gewand digitaler Klugheit. Von den intellektuell diffusen, aber ambitionierten politischen Reden bis hin zu den sich selbst perpetuierenden Empörungsritualen einer hypermoralischen Öffentlichkeit. Es gibt viele Erasmus-Typen – Robert Habeck etwa, der Sprache liebt, Differenzierung ehrt, und dabei doch inmitten einer Welt steht, die Klarheit wie eine Kampfansage behandelt. Doch wo ist der Luther, der den Mut hat, eine gefährliche Wahrheit in den Raum zu hämmern?
Zwischen Dummheit und göttlicher Narrheit
Erasmus’ Torheit war doppeldeutig: Sie meinte nicht bloß Blödsinn, sondern auch die göttliche Narrheit, die im Neuen Testament als Paradox des Glaubens erscheint. Ein Gott, der sich kreuzigen lässt, ist in den Augen der Welt ein Narr – aber in dieser Torheit offenbart sich das tiefste Verständnis menschlicher Schwäche. Dieses paradoxe Motiv, der „Narr Gottes“, verweist auf eine Weisheit jenseits der Vernunft. Heute, in einer Ära künstlicher Intelligenz und algorithmischer Rationalität, klingt das fast revolutionär.
Die Torheit, schrieb Erasmus, mache den Menschen menschlich. Ohne sie gäbe es keine Liebe, keine Leidenschaft, kein Lachen. Nur hat der moderne Mensch das Lachen verlernt – er kennt nur noch das Spotten. Aus der heilenden Ironie der Renaissance ist Zynismus geworden, aus Selbstkritik Selbstinszenierung.
Dummheit als System
Im 21. Jahrhundert wirkt Torheit nicht mehr wie Verirrung – sie ist strukturell eingebaut. In Politik und Medien lernen wir längst: wer verkürzt, wird gehört; wer vereinfacht, wird verstanden; wer komplex denkt, verliert. Der ökonomische Vorteil der Dummheit liegt auf der Hand – sie klickt sich besser. Plattformen wie X (ehemals Twitter) oder TikTok belohnen, was Erasmus schon kannte: die Pose statt die Idee.
„Dumm ist besser als weise“, ließ der Humanist seine Figur sagen. Damals war das ironisch gemeint – heute ist es wörtlich geworden.
Erasmus’ Aktualität: Mut zur Ambivalenz
Und doch bleibt Erasmus aktuell, weil er das Denken selbst ernst nahm. Seine Kritik an kirchlicher Heuchelei, an Machtmissbrauch und an der verlogenen Autorität der Gelehrten war kein revolutionäres Pamphlet, sondern eine Einladung zur Nachdenklichkeit. Er glaubte, dass man den Menschen nur über den Humor erreichen könne, nicht über den Bannstrahl. Das ist die Kunst der Zivilisierung – und vielleicht die eigentliche politische Aufgabe unserer Zeit.
Das moderne „Lob der Torheit“ müsste daher weniger auf die Dummen zeigen als auf jene, die sie großmachen. Auf das Publikum also. Auf jeden, der lieber Zustimmung als Wahrheit sucht, der aus Bequemlichkeit schweigt oder Spott mit Klarsicht verwechselt.
Erasmus schrieb in einer Welt, in der die Druckerpresse gerade erfunden war. Heute leben wir in der globalen Druckerpresse Internet – und wieder verbreiten sich Halbwahrheiten schneller als Aufklärung. Damals wie heute gilt: Torheit ist Lautsprecher, Vernunft ein Flüstern.
Fazit
„Das Lob der Torheit“ ist kein altes Buch – es ist ein seelischer Seismograph. Wer es heute liest, erkennt, dass die Torheit nie verschwand, sie wechselte nur die Bühne. Erasmus wollte keine Zerstörung, sondern Läuterung. Die Dummheit sollte entlarvt, nicht besiegt werden. In einer Zeit, in der sich vermeintliche Wahrheiten im Sekundentakt überbieten, ist seine leise Ironie die lauteste Stimme der Vernunft.
Vielleicht wäre Erasmus heute Kolumnist. Vielleicht würde er Habeck verteidigen – oder ihn zitieren. Ganz sicher aber hätte er uns daran erinnert, dass der Narr oft der Einzige ist, der die Wahrheit sagt. Und dass die größte Torheit darin liegt, klug zu sein und trotzdem nichts zu verstehen.