a number of owls are sitting on a wire

Kunst zwischen Sehen – Können – Dürfen

Ich stand im Humboldt Forum in Berlin, umgeben von Objekten aus aller Welt, aus verschiedenen Jahrhunderten, mit Spuren fremder Hände, fremder Augen, fremder Welten. Doch je länger ich durch die Räume ging, desto weniger sah ich Antworten – stattdessen kamen Fragen. Fragen nach dem, was Kunst eigentlich ist, was sie darf, was sie kann, und was ich selbst sehen kann oder will. Ein Gang, der sich wie eine gedankliche Spirale anfühlte: immer weiter nach innen, immer weiter ins Offene. Eine Gradwanderung zwischen Sehen – Können – Dürfen.

Das Können: Was die Hand vermag

Vor einer geschnitzten Holzfigur blieb ich stehen. Ich sah die Spuren eines Messers, feine Linien, Unebenheiten. Es wirkte fast intim: die Bewegung einer Hand, eingefroren im Material. Und sofort fragte ich mich: Wie sehr hängt Kunst am Werkzeug? Wäre diese Figur dieselbe, wenn sie nicht mit einem schlichten Steinwerkzeug, sondern mit einer modernen Fräse entstanden wäre?

Schnitzkunst, Figur, Kopf

Die Entwicklung der Werkzeuge ist wie ein unsichtbarer Faden durch die Kunstgeschichte. Erst grobe Steinwerkzeuge, die kaum mehr zuließen als Schaben und Schlagen. Dann Kupfer und Bronze, die plötzlich feinere Ritzungen, präzisere Formen ermöglichten. Später das Eisen – zunächst weich, dann im Stahl so hart, dass sich selbst Marmor in delikate Muster verwandeln ließ. Ich denke an den Sprung vom groben Hammer zur feinen Lanzettnadel, vom Handwebstuhl zur industriellen Webmaschine, von der Knochennadel der frühen Textilien zur präzisen Stahlnadel, die hauchdünne Stoffe hervorbringen kann.

Doch dieser technische Fortschritt verlief nie gleichmäßig. Während in einer Region bereits Bronze verarbeitet wurde, bearbeiteten andere Kulturen weiterhin Stein. Nicht, weil sie „zurück“ waren, sondern weil Materialien, Wissen oder Austausch fehlten – oder gezielt verhindert wurden. Politische Machtverhältnisse bestimmten oft, welche Technologien wo verfügbar waren. Koloniale Eingriffe haben diesen Rhythmus zusätzlich verzerrt: Wissen wurde nicht nur weitergegeben, sondern auch zurückgehalten, kontrolliert, monopolisiert. Europäische Kolonialmächte verhinderten häufig gezielt den Zugang zu Werkzeugen oder Maschinen, um Abhängigkeiten zu schaffen. So wurde der Fortschritt nicht nur zeitlich, sondern auch geographisch und politisch ungleich verteilt.

Jedes Material, jedes Werkzeug, öffnet und begrenzt zugleich. Was der mittelalterliche Steinmetz mit Hammer und Meißel an Kathedralen schuf, brauchte nicht nur Kraft, sondern jahrelanges Üben. Der Maler der Renaissance, der mit Lineal und Zirkel die Perspektive entdeckte, veränderte die Art, wie wir Welt sehen. Und heute? Der zeitgenössische Künstler greift zur Digitalkamera, zur CNC-Fräse, zur Künstlichen Intelligenz – und plötzlich scheint alles möglich. Aber ist es dasselbe Können? Oder wird die Hand ersetzt, verdrängt vom Werkzeug?

Ich spüre, dass „Können“ immer doppeldeutig bleibt: Es bedeutet nicht nur „fähig sein“, sondern auch „dürfen“. Was erlaubt mir mein Werkzeug, und was nimmt es mir? Erweitert Technik den künstlerischen Ausdruck, oder verführt sie dazu, die Hand zu entlasten, die Ungleichmäßigkeit, die Spur des Menschlichen zu tilgen?

Das Sehen: Ein natürlicher Blick oder kulturelles Lernen?

Vor einem indonesischen Textil, dessen Muster sich wie Wellen wiederholten, fragte ich mich: Erkenne ich, was gemeint ist? Oder sehe ich nur Dekor? Muss ich erst lernen, was hier dargestellt wird?

Wir sprechen so oft vom „natürlichen Sehen“. Aber ist es wirklich natürlich? Ich selbst sehe durch die Brille westlicher Kunstgeschichte, geprägt von Leonardo, Rembrandt, Fotografie. Ich erwarte Proportionen, Schatten, eine gewisse Nähe zur Wirklichkeit. Doch vielleicht ist das schon eine Verengung: Der mittelalterliche Maler, der einen Heiligen mit übergroßen Händen zeigte, tat das nicht, weil er es „nicht konnte“, sondern weil es wichtig war, die segnenden Hände hervorzuheben. Er sah mit einem anderen Blick – oder wollte, dass ich anders sehe.

Diese Frage stellt sich noch stärker, wenn ich afrikanische Skulpturen betrachte. Gesichter mit übergroßen Augen, Köpfe, die im Verhältnis zum Körper riesig wirken, Körper, die verkürzt oder abstrahiert erscheinen. Sind das „Verzerrungen“? Oder ist es nur meine Wahrnehmung, die eine Abweichung feststellt, weil ich ein bestimmtes Bild von „richtigen“ Proportionen gelernt habe? Sehen die Völker Afrikas also tatsächlich „anders“, sodass ihre Darstellungen eine logische Folge dieses Blicks sind? Oder sehe ich selbst „anders“, sodass ich nur Differenz wahrnehme, wo in ihrer Logik eigentlich Kohärenz herrscht?

Ein ähnliches Staunen hatte ich vor den Dot-Paintings aus Australien. Für mich wirken die Punkte wie abstrakte Muster, wie Dekoration oder ornamentale Spielerei. Doch für die Aborigines sind sie Karten, Geschichten, Verweise auf die „Traumzeit“ – ein kosmisches Wissen, das im Muster eingeschrieben ist. Ich sehe Oberfläche, wo andere Tiefen lesen. Liegt die „Blindheit“ also in den Bildern selbst – oder in meinen Augen?

Auch in Nordamerika, bei den bemalten Tierhäuten, wurde mir diese Frage aufgedrängt. Ich erkannte Szenen von Jagd und Kampf, Menschen und Pferde, Bewegung und Dynamik. Aber vielleicht sehe ich nur Anekdoten, wo es eigentlich um kollektives Gedächtnis geht. Die scheinbare „Naivität“ der Darstellung ist vielleicht kein Mangel, sondern eine bewusste Form, die Erzählung ins Zeichenhafte zu übersetzen.

Und in Südamerika, bei den farbigen Federschmuckarbeiten, sehe ich Schönheit, Harmonie, eine fast ästhetische Leichtigkeit. Doch vielleicht sehe ich nur Schmuck, wo andere Macht, Status und spirituelle Bedeutung wahrnehmen. Die Farben sind nicht Dekor, sondern Sprache. Nur habe ich sie nie gelernt.

Vielleicht gibt es kein neutrales Sehen, sondern immer nur ein kulturell geprägtes. Meine Augen sind geschult auf Fotorealismus, auf eine Welt, die in Perspektive zerfällt und in naturgetreuen Schatten erscheint. Aber in einer Kultur, in der das Innere wichtiger ist als das Äußere, erscheint es folgerichtig, Augen zu vergrößern – denn sie sind Fenster zur Seele. Oder den Kopf überproportional darzustellen, weil dort Weisheit, Denken, Identität wohnen. Was für mich „abweichend“ wirkt, ist dort vielleicht schlicht „richtig“.

Ich frage mich: Gibt es also überhaupt ein „sehen, wie es wirklich ist“? Oder sehen wir immer schon durch kulturelle Raster? Ist der Unterschied zwischen europäischem Naturalismus, afrikanischer Symbolik, australischer Traumzeit-Malerei oder nordamerikanischer Narration nicht ein Beweis dafür, dass auch meine Augen selektiv sind, dass ich nicht die Wirklichkeit sehe, sondern meine erlernte Vorstellung von ihr?

Vielleicht ist Kunst in diesem Sinn auch ein Spiegel: nicht nur der Kultur, die sie hervorgebracht hat, sondern auch der Kultur, die sie betrachtet. Wenn ich „Verzerrung“ wahrnehme, verrate ich damit vor allem etwas über mein eigenes Sehen.

Das Dürfen: Grenzen von Moral, Religion und Macht

Besonders intensiv wurde mein Nachdenken vor Objekten, die einst verboten, versteckt oder zensiert waren. Ein Aktgemälde, das in Europa lange als skandalös galt. Ein religiöses Artefakt, das nur bestimmten Personen zugänglich war. Kunst ist immer auch eine Frage des Dürfens.

Dabei wird mir klar: Was als „normal“ gilt, ist kulturell höchst unterschiedlich. In manchen Gesellschaften war Nacktheit alltäglich, unaufgeladen, Ausdruck von Natürlichkeit und Zugehörigkeit. In anderen wurde derselbe nackte Körper zum Tabu, sexualisiert, moralisch aufgeladen – und schließlich verboten. Dieselbe Darstellung, die in einem Kontext harmlos wirkt, erscheint in einem anderen anstößig oder gar blasphemisch. Wer entscheidet also, was „darf“ und was nicht?

Besonders eindrücklich wurde diese Frage für mich bei Objekten, die ursprünglich nur innerhalb eines klaren rituellen Rahmens sichtbar sein durften – Masken, Ritualgegenstände, Bilder. Ihr Platz war nicht im hell erleuchteten Museumssaal, sondern im Schutz des Rituals. Heute jedoch stehen sie im Humboldt Forum allen offen, und ich frage mich: Begehe ich als Besucher nicht eigentlich ein Sakrileg, indem ich sie betrachte?

Viele dieser Objekte sind nicht freiwillig hierher gelangt, sondern im Zuge kolonialer Gewalt entwendet, in asymmetrischen Tauschbeziehungen erworben oder schlicht geraubt worden. Das Museum ist damit nicht nur ein Ort der Bewahrung, sondern auch ein Ort des erzwungenen Sehens: Was ursprünglich unsichtbar bleiben sollte, wurde gewaltsam sichtbar gemacht.

In dieser Präsentation liegt eine Form der Übergriffigkeit. Vielleicht nicht aus individueller Überheblichkeit der Sammler oder Kuratoren, sondern aus einer Haltung, die von einer Siegermentalität geprägt ist: Wer militärisch, ökonomisch oder politisch die Oberhand hat, eignet sich nicht nur Land und Ressourcen an, sondern auch Bilder, Bedeutungen und das Recht auf Sichtbarkeit. Das Ausstellen wird so zur Geste der Macht – ein Triumph, der das Verborgene entreißt und der eigenen Deutungshoheit unterstellt.

Gleichzeitig spüre ich die andere Seite: den unstillbaren Drang, alles sehen, alles wissen, alles zugänglich machen zu wollen. Forschung, Ethnologie, Museum – sie leben vom Blick, vom Offenlegen, vom „Zeigen dürfen“. Doch was geschieht, wenn dieser Wissenshunger in Widerspruch steht zu Tabus, zu Geheimhaltung, zu dem Recht einer Gemeinschaft, etwas nicht preiszugeben? Ist das, was ich hier als „Wissen“ erlebe, vielleicht für andere ein Akt der Verletzung?

In dieser Spannung zwischen „wissen wollen“ und „nicht sehen dürfen“ liegt für mich ein Kernproblem der Kunst im Museum. Darf ein Objekt, das nur im Ritual lebendig war, außerhalb dieses Kontextes überhaupt betrachtet werden? Oder ist sein Anblick ohne Zeremonie nicht nur unvollständig, sondern eine Form von Verrat – verstärkt durch die koloniale Geschichte seiner Aneignung und durch die Geste einer Siegermentalität, die die Macht über Sichtbarkeit beansprucht?

Symbolismus, Naturalismus und der Sprung zur Abstraktion

In einer Vitrine sah ich Gefäße mit einfachen, geometrischen Mustern. Kreis, Linie, Punkt. Zuerst wirkte es schlicht, fast naiv. Doch je länger ich hinschaute, desto stärker spürte ich eine Bedeutung, die mir entglitt. War der Kreis die Sonne? Ein Gott? Ein Zeichen der Ewigkeit? Oder einfach nur ein Kreis? Ich konnte es nicht entscheiden – und genau darin lag der Reiz. Das Bild blieb offen, oszillierend zwischen Form und Bedeutung.

Der Weg von naturalistischer Darstellung zur Abstraktion scheint in der Kunstgeschichte kein gerader, sondern ein wellenförmiger zu sein. Mal strebt die Kunst nach größtmöglicher Nähe zur sichtbaren Wirklichkeit, mal zieht sie sich zurück ins Zeichenhafte, ins Symbolische. Höhlenmalereien wirken auf den ersten Blick naturalistisch, und doch sind sie voller Zeichenhaftigkeit. Antike Skulpturen suchen nach dem Ideal des Körpers, mittelalterliche Malerei bricht Proportionen zugunsten religiöser Symbolik, die Renaissance entdeckt das „wahre Sehen“, die Moderne bricht es wieder auf. Als wäre Kunst in einem ewigen Rhythmus zwischen Nachahmung und Verfremdung gefangen.

Ich frage mich: Was treibt diese Bewegung? Ist Abstraktion eine Flucht aus der Welt – oder nicht vielmehr der Versuch, das Wesentliche zu zeigen? Wenn Kandinsky Töne in Farben übersetzte, wenn Paul Klee eine Linie „spazieren gehen“ ließ – war das Abstraktion? Oder war es eine Form von radikalem Naturalismus, der nicht die äußere, sondern die innere Wirklichkeit abzubilden versuchte?

Dasselbe könnte auch für die sogenannten „primitiven“ oder „indigenen“ Formen gelten. Ein afrikanischer Kopf mit übergroßen Augen ist keine Abkehr von der Realität, sondern eine Überhöhung dessen, was zählt: das Sehen, das Innere, das Geistige. Ein australisches Dot-Painting mag für mich wie ein abstraktes Muster wirken – und ist doch in Wirklichkeit eine Landkarte, ein kosmischer Bericht, ein Symbolsystem, das mit einer Tiefe aufgeladen ist, die meinem Blick verborgen bleibt. Was ich als „Abstraktion“ deute, ist dort „Realismus“ auf einer anderen Ebene.

Vielleicht ist Kunst also nie einfach „realistisch“ oder „abstrakt“. Vielleicht ist sie immer beides: eine Oberfläche, die sich auf das Sichtbare bezieht, und zugleich ein Symbol für etwas, das sich meinem Blick entzieht. Auch der hyperrealistische Maler, der jede Hautpore sichtbar macht, sagt damit nicht nur etwas über die Haut, sondern über den Wert, den er dem Sichtbaren gibt. Und selbst die einfachste geometrische Form – Kreis, Linie, Punkt – kann immer zugleich Welt, Gott oder Zeichen sein.

Ich frage mich, ob die Unterscheidung zwischen Naturalismus und Abstraktion nicht eine Täuschung ist – ein Raster, das ich als Betrachterin anlege. Vielleicht gibt es gar kein Entweder-oder, sondern nur verschiedene Formen, die Welt zu sehen und zu deuten. Die eine im Detail, die andere im Zeichen. Beide gleichermaßen wahr, beide gleichermaßen unvollständig.

Naive Kunst: Rückkehr zum Ursprünglichen?

Immer wieder komme ich zurück zur Frage nach der „naiven Kunst“. Kinderzeichnungen, Volkskunst, das, was außerhalb der akademischen Regeln entsteht – warum berührt es so unmittelbar? Ist es, weil hier das Dürfen keine Rolle spielt? Kinder fragen nicht, ob sie die Welt „richtig“ sehen. Sie zeichnen sie einfach, so wie sie sie erleben. Ohne Angst, ohne Rücksicht auf Konventionen.

Vielleicht liegt darin eine Wahrheit: Kunst, die sich nicht um Können oder Dürfen kümmert, sondern die Welt unmittelbar abbildet. Aber ist das wirklich Naivität – oder vielmehr die höchste Form von Freiheit? Ich frage mich, ob nicht jede „große“ Kunst eigentlich den Versuch darstellt, dieses kindliche Sehen wiederzufinden, ohne in bloße Unbeholfenheit zurückzufallen.

In der Moderne taucht genau hier der Gedanke der „Entakademisierung“ auf: der bewusste Bruch mit Regeln, mit Lehren, mit dem „richtigen“ Sehen und Darstellen. Künstler wie Picasso oder Paul Klee nahmen bewusst Kinderzeichnungen als Vorbild, nicht weil sie kindisch wirken wollten, sondern weil sie in ihnen eine Reinheit des Denkens fanden, eine Unmittelbarkeit, die in der akademischen Ausbildung verloren zu gehen droht. Verkinderlichung – nicht als Rückschritt, sondern als Suche nach Ursprünglichkeit.

Aber zugleich sehe ich auch den Einfluss des Publikums. Muss sich Kunst manchmal „vereinfachen“, um verständlich zu bleiben? Passt sie sich an, um bestimmte Botschaften transportieren zu können? Ist Naivität also nicht nur ein künstlerischer Impuls, sondern auch eine strategische Entscheidung? Volkskunst, Propagandakunst, populäre Bildsprache – sie alle arbeiten mit der Reduktion, mit der Direktheit. Vielleicht, weil das Publikum nach Klarheit verlangt. Vielleicht, weil die Umwege akademischer Komplexität zu verschlossen wären.

Und doch: In dieser Vereinfachung steckt eine große Freiheit. Wer nicht an Regeln gebunden ist, kann ungehindert denken, sehen, zeichnen. Naive Kunst wird so zur Metapher für eine Freiheit, die die Kunst immer wieder sucht – jenseits von Technik und Tradition, jenseits von „dürfen“ und „können“. Vielleicht ist es gerade diese Freiheit, die sie so unmittelbar berührend macht.

Ich frage mich: Ist das „Naive“ am Ende weniger ein Mangel als vielmehr ein Ideal? Nicht weniger, sondern mehr? Ein Zustand, der sich nicht durch Können aufheben lässt, sondern durch das Denken selbst – durch den Mut, die Welt neu, unverstellt, ungeschützt zu sehen.

Mein offener Schluss

Als ich das Humboldt Forum verließ, hatte ich keine Antworten. Aber vielleicht ist genau das die Erfahrung der Kunst: nicht Auflösung, sondern Verunsicherung. Zwischen Sehen, Können und Dürfen spannt sich ein Feld, das nie abgeschlossen ist, ein Raum voller Reibung, voller Spannungen.

Ich denke an die naive Kunst, an die Kinderzeichnungen, an das Ungeschulte und Unakademische. Vielleicht ist sie nicht bloß eine Randerscheinung, sondern eine Erinnerung daran, dass Kunst auch anders sein kann: entakademisiert, frei von Regeln, frei von Vorgaben. Eine Art Reinheit des Denkens, die nicht Rückfall bedeutet, sondern Mut zur Unmittelbarkeit. Vielleicht ist gerade diese „Verkinderlichung“ eine Form von Befreiung: weg von der Angst, richtig oder falsch zu sehen, hin zu einem Denken, das sich erlaubt, ungebunden zu sein.

Gleichzeitig weiß ich: Kunst entsteht nie ohne Regeln, ohne Grenzen, ohne Schranken. Sehen – Können – Dürfen. Freiheit – Technik – Verbot. Vielleicht sind es diese Pole, zwischen denen sich Kunst immer wieder neu spannt. Wenn sie nur frei wäre, würde sie belanglos. Wenn sie nur Regeln folgte, würde sie starr. Wenn sie nur Tabus akzeptierte, würde sie verstummen. Erst im Spiel zwischen Freiheit und Begrenzung entfaltet sie ihre Kraft.

Ich frage mich also: Sehe ich wirklich? Kann ich mehr, als ich glaube? Darf ich, was ich sehe? Oder darf ich gerade das nicht sehen, was mir gezeigt wird? Und will ich überhaupt, dass alles sichtbar ist? Vielleicht liegt die Kunst nicht im Objekt selbst, sondern in diesen Fragen, die ich mit mir hinausgetragen habe – zurück in die Gegenwart, zurück in mein eigenes Sehen. Und vielleicht ist es genau dieses Unfertige, das sie lebendig hält.

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