a number of owls are sitting on a wire

Wiesn – Im Bier- und Geldrausch

Das Oktoberfest in München, medial verklärt als Inbegriff bayerischer Lebensfreude, ist längst mehr als ein Fest. Es ist eine Maschinerie, die Alkohol, Klischees und harte Ökonomie zu einem Spektakel verquirlt, das Millionen anzieht – und Millionen abwirft. Doch was auf der Theresienwiese tatsächlich im Vordergrund steht, ist weniger die Tradition oder das gemütliche Beisammensein, sondern das perfekte Zusammenspiel von Kommerzialisierung und Selbstinszenierung. Das Oktoberfest ist das Paradebeispiel dafür, wie aus Kultur zuerst Folklore und dann ein reines Geschäftsmodell wird.

Die Perversion einer Tradition

Was einst 1810 als Hochzeitsfeier von Kronprinz Ludwig und Prinzessin Therese begann, wird heute zu einem globalen Milliarden-Event hochgejazzt. Die vermeintliche „Tradition“ besteht mittlerweile darin, dass Australier im Dirndl grölen, Amerikaner im künstlichen Lederhosen-Outfit Bierkrüge stemmen und Marketing-Abteilungen die Wiesn als perfekte Kulisse zur Selbstprominenz nutzen. Vom Ursprung ist so wenig übrig geblieben wie vom bayerischen Dialekt im Paulaner-Festzelt. Kultur? Wenn man sie durch Maßkrüge und chicken Influencer-Selfies definiert, dann vielleicht.

Die Perversion liegt darin, dass die „Heimatverbundenheit“ nur noch als Verkaufsargument taugt. Jedes Detail – vom Hendl über die Brezen bis zum Bier – ist Teil eines durchkalkulierten Systems, in dem die Feiernden kaum noch Gäste, sondern vielmehr Konsumenten sind. Ein Sitzplatz im Bierzelt bedeutet Exklusivität, kein lockeres Drauflosfeiern mehr. Wer Glück hat, darf dabei sein – wenn er bezahlt. Sehr viel bezahlt.

Reflexion? Fehlanzeige

Eine gesellschaftliche Reflexion über das, was hier Jahr für Jahr passiert, scheint unmöglich – aus einem simplen Grund: Es hängt viel zu viel Geld daran. Das Oktoberfest ist für München ein Wirtschaftsmotor sondergleichen. Laut Stadt München spült die Wiesn jedes Jahr mehr als eine Milliarde Euro in die Kassen – direkt oder indirekt. Hotels sind ausgebucht, Airlines machen Extra-Geschäfte, und die Brauereien lachen sich sowieso ins Fäustchen. Wer will da noch ernsthaft nachdenken über Sinn oder Unsinn? Kritik prallt ab wie das Bier an der Zeltplane – sobald einer als Spielverderber auftritt, wird er rasch abqualifiziert.

Feier, Ablenkung oder knallharte Finanzlogik?

Natürlich trägt das Oktoberfest alle drei Facetten in sich. Es ist Feier und Eskapismus zugleich: In einer Welt, die von Krisen, Kriegen und Unsicherheit geplagt ist, verkauft die Wiesn das Gefühl einer heilen Blase, wo die Probleme draußen bleiben müssen. Für viele ist es schlicht Ablenkung – für Touristen ein Souvenir im Gedächtnis, für Münchner eine Gelegenheit, selbst ins Klischee einzutauchen.

Doch man darf nicht naiv sein: Im Zentrum stehen die Finanzen. Die Preise explodieren Jahr für Jahr. Eine Maß Bier kratzt inzwischen an der 15-Euro-Marke1, ein Hendl kostet astronomische Summen. Familienfreundlich? Fehlanzeige. Es ist ein Fest für solvente Besucher, die bereit sind, tief in die Tasche zu greifen. Und Firmenkunden. Denn die wahren Gewinner sind nicht jene, die privat einen Tisch ergattern, sondern die Unternehmen, die massenweise Tische vorreservieren – auf Firmenkosten und zur gepflegten Kundenunterhaltung. Die Frage ist: Wer zahlt hier wirklich das Spektakel? Der einzelne Gast oder die Konzerne, die sich die „kulturelle“ Bühne gönnen?

„Wir habens ja Kultur“

Die Rechtfertigung für die Exzesse lautet stets: „Es gehört eben dazu. Das ist Kultur.“ Doch spätestens hier runzeln die Einheimischen die Stirn. Wer nicht selbst Teil des Spektakels ist, weiß: Mit bayerischer Kultur hat das Oktoberfest so viel zu tun wie ein Fast-Food-Lokal mit kulinarischer Feinschmeckerei. Es ist ein globalisiertes Event im Dirndl-Kostüm. Touristen mögen es verschlingen, die Münchner selbst blicken oft nur noch kopfschüttelnd auf die Szenerie. Vielen wird die Wiesn gar zur Belastung – verstopfte Straßen, Betrunkene, randvolle U-Bahnen.

Kritik abgewürgt – die Spielverderber-Karte

Kritikerscharen sind vorhanden, doch ihre Stimme wird nicht gehört. Wer auf die Probleme hinweist, gilt sofort als Spaßbremse. Alkoholmissbrauch? Ist halt so. Dass die Wiesn seit Jahren als Brutstätte der „Wiesngrippe“ berüchtigt ist, interessiert kaum – ebenso wenig wie die Tatsache, dass hohe Krankenstände in Unternehmen regelmäßig im Anschluss an das Oktoberfest verzeichnet werden. Aber wer das Thema zur Sprache bringt, stellt sich schnell außerhalb der angeblichen „Feierkultur“.

  • Vorbildwirkung für Kinder: Dass auf der Wiesn Alkohol in unfassbaren Mengen fließt, wird klammheimlich als „normal“ verkauft. Kinder wachsen mit dem Bild auf, dass Saufen Teil der „Kultur“ ist.
  • Allgemeine Sicherheitsbedenken: Gewalt- und Straftaten nehmen während des Oktoberfests signifikant zu. Das Polizeipräsidium München registriert Jahr für Jahr Hunderte Körperverletzungen – eine „Tradition“, über die man weniger gern spricht.
  • Soziale Exklusion: Immer weniger Menschen können sich den Besuch überhaupt leisten. Der „Volkssfest“-Charakter ist ad absurdum geführt, es bleibt ein High-Class-Event im Gewand des Volkstümlichen.
  • Ökologische Folgen: Müllberge von mehreren tausend Tonnen, ein gigantischer Energieverbrauch und eine Klimabilanz, die alles andere als zeitgemäß ist – doch diese Diskussion bleibt im Bierrausch liegen.

Rechtfertigt Geld jede Maß?

Natürlich kann man die enormen Umsätze nicht ignorieren. Aber rechtfertigen sie das Fest? Die Befürworter sagen: Ja, schließlich profitieren zigtausend Arbeitsplätze vom Oktoberfest. Doch ist wirtschaftlicher Nutzen wirklich das letzte verbliebene Argument für ein Fest, das allmählich zur Karikatur seiner selbst wird? Mit jeder neuen Preissteigerung, jedem neuen Sponsoring, jedem Instagram-Hashtag zieht sich die Wiesn weiter von ihrem Ursprung zurück.

Wie es anders geht

Dass Volksfeste auch anders aussehen können, zeigen die vielen kleineren, lokalen Feste und Dults, die überall in Bayern und darüber hinaus stattfinden. Dort stehen Gemeinschaft und Begegnung im Vordergrund, nicht die Maximierung von Umsatz. Man trifft Nachbarn, Freunde, den örtlichen Musikverein, man sitzt auf Bierbänken2 am Dorfplatz statt auf reservierten VIP-Bänken. Der Eintritt ist frei oder erschwinglich, das Bier kostet die Hälfte, und ein halbes Hendl bedeutet nicht gleich den Verzicht auf eine Tankfüllung im nächsten Monat.

Diese kleineren Veranstaltungen beweisen, dass Tradition dann lebendig bleibt, wenn sie aus der Mitte des Alltags heraus wächst – nicht aus einem Marketing-Katalog. Dort schaffen es Vereine und lokale Wirte, ein Stück Authentizität zu bewahren, ohne sich vollständig zu verkaufen. Gerade weil weniger Geld im Spiel ist, bleiben Menschlichkeit und Verbundenheit wichtiger als Gewinnmargen. Hier erkennt man, was ursprünglich unter „Volksfest“ verstanden wurde: Ein Fest fürs Volk, nicht für die Anleger.

Fassen wir zusammen

Die Wiesn ist ein Spiegel unserer Gesellschaft: ein Ort, an dem Exzess, Ablenkung und Kommerz Hand in Hand gehen. Eine „Tradition“, die längst dem Mammon geopfert wurde. Reflexion ist nicht gewollt, Kritik wird abgebügelt, und im Vordergrund steht immer der Umsatz. Wer feiern will, soll feiern – doch bitte ohne das Märchen vom „echten bayerischen Brauchtum“. Die Wiesn ist kein Volksfest mehr. Sie ist ein Geschäftsmodell im Bierkrugformat.

Und eben deshalb lohnt der Blick auf die kleinen, echten Feste vor Ort. Dort, wo Nachbarn miteinander feiern, Vereine den Ausschank organisieren und die Musik nicht aus der Spotify-Playlist kommt. Dort lebt die Tradition. Auf der Wiesn dagegen lebt nur noch das Geschäft.

2 thoughts on “Wiesn – Im Bier- und Geldrausch

  1. Guten Tag,
    das soo manches von einer GEMEINSAM-IDEE zu einem sehr primitven Kommerz-Event verkommt,
    man die Nebenwirkungen ausblendet und als „Normal“ darstellt, liegt an der Verteilung und das
    zeigen die analogen Ereignisse:
    Fußball -> welche Millionen werden da umgesetzt? Mit welchen „Nebenwirkungen“
    Fußball steht aber auch für alle ebenso Besucher-relevanten Sportarten wie Tennis, Handball, Basketball ua.
    Bundestagswahlen -> welcher Aufwand, welches Feiern, ~~~ welcher Erfolg???
    Reise/Urlaubsaktivitäten -> welche Kosten -> welcher Nutzen -> Welche Nebenwirkungen???
    Ich hab für den An-Reiseverkehr zu den 34 Fußball-Bundesliga-Spieltagen mal die wahrscheinlichen gefahrenen kilometer ausgerechnet! Wenn St.Pauli gegen Hamburg spielt, ein Dorftreffen, wenn aber beide Mannschaften in München spielen und einige 1000 Anhänger mitreisen, kommen KMs zusammen, das einem schwindelig wird!
    Und die Münchner reisen samt Fantruppe zweimal nach Hamburg!
    2023/24 bei 5,21 Millionen Tageskarten und damit bei einem neuen Rekord für den deutschen Lizenzfußball.
    Wenn ein viertel der Besucher Gast-Mannschaftsbesucher sind, sind es etwa 1,3 mio Besucher mit etwa 125 km Anfahrt und Parkplatz suchen… macht gefahrene ca 162 mio KMs mal nur 5l/100 km = 8,1 mio liter Treibstoff! ohne zweit oder Drittligaspiele zu berücksichtgen… oder die ortsnahen Anfahrten der gastgebenden Fans!

    Der allgemeine Autofahrer soll für Klimaschutz nur 130KM/h fahren, aber die Fans und Münchner Bierzeltbesucher dürfen Millionen KM abspulen??? Ganz gegen Klimainteressen?
    Kann mir das Jemand erklären???

    ist hier „der Profit“ das Argument, was die Klimakrise aufhebt?
    Wie lange kann dieses Geschwafel noch irgendwie glaubwürdig sein?

    mit freundlichen Grüßen
    Wolfgang Hubrach

  2. „Die Wiesn ist ein Spiegel unserer Gesellschaft: ein Ort, an dem Exzess, Ablenkung und Kommerz Hand in Hand gehen“
    und nicht zu vergessen:

    Die Verblödung ihrem Höhepunkt entgegensiedet!

    Denn WIR !!! lassen es zu!
    ist das demokratisch oder dumm oder beides?

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