verlorene Kreativität – Goethes „Faust“ schlägt in die Gegenwart

In einem Fernsehbeitrag vor ein paar Tagen wurde eine Frau aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts vorgestellt, die zwei Dinge im Überfluss besaß – Zeit – sie durfte nicht studieren – und Geld – sie war Erbe eines immensen Vermögens.

In ihrer Verzweiflung, nicht akademisch arbeiten zu können/dürfen, fing sie an, wie in der Zeit üblich und beliebt, kleine Dioramen zu bauen. Das tat sie mit unglaublicher Akrebie. Irgendwann begann sie, den Dioramen einen tieferen Sinn zu geben, indem sie in ihren Meisterwerken Tatorte von Kriminalfällen abbilden. Damit schuf sie einen neuen Zweig der Ausbildung.

Warum ist mir dieser Beitrag aufgefallen?

Dieser Beitrag hat mir einen wichtigen Fakt wieder in meinen Fokus zurückgeholt, nämlich die Frage, was notwendig ist, um kreativ zu werden.

Es ist keine Frage der Intelligenz, keine Frage der Ausbildung, des sozialen Status – es ist eine Frage von verfügbarer Zeit und einer materiellen Mindestabsicherung.

Zeit

Das Thema Zeit ist ein leidiges Thema. Keiner von uns hat genug davon – aber warum? Was füllt unsere Tage aus?

Eigentlich ist es erschreckend, wieviel Zeit wir im wahrsten Sinne des Wortes „totschlagen“. Wir konsumieren Informationen ohne substantielle Bedeutung, werden im linearen Fernsehen mit hirnerweichenden TV-Shows vom eigentlichen Leben abgelenkt. Wir haben keine Zeit, weil wir auf verschiedenen Social Media Kanälen den Status checken und Likes generieren müssen.

Das wirklich Schlimme dabei ist, ich kann und darf mich nicht ausnehmen! Auch ich bin ein Stückweit gefangen von den Möglichkeiten der neuen Welt.

Im Beruf zeigt sich ebenfalls eine erschreckend hohe, kreativitätsbremsende Unproduktivität. Meetings, Telefonkonferenzen mit und ohne Agenda, Prozesswahn und Dokumentationswut rauben Zeit für kreative Produktivität. Und ich befürchte, das ist nicht nur bei mir so. Überregulierung vs. logischem Menschenverstand, (formale) Absicherung vs. Verantwortungsbewusstsein. Getötete Zeit, unwiderruflich in den Äonen untergegangen, die Faust … und da fällt mir doch glatt der „Faust II“ ein, innig geliebtes Thema in der Schule.

Wie frappierend doch dieser alte Text auf die Mängel unserer Zeit passt?! Wie gut, dass ich den Text in der Schule sogar auswendig lernen durfte/musste! Ich ergänze doch gleich einmal ein paar Fußnoten:

Ein Sumpf 1 zieht am Gebirge hin,

Verpestet alles schon Errungne2;

Den faulen Pfuhl3 auch abzuziehn4,

Das Letzte wär’ das Höchsterrungne.

Eröffn’ ich Räume vielen Millionen5,

Nicht sicher6 zwar doch thätig-frei7 zu wohnen.

Grün das Gefilde, fruchtbar; Mensch und Heerde

Sogleich behaglich auf der neusten Erde8,

Gleich angesiedelt an des Hügels Kraft9,

Den aufgewälzt kühn-emsige Völkerschaft.

Im Innern hier ein paradiesisch Land10,

Da rase draußen Fluth bis auf zum Rand11,

Und wie sie nascht gewaltsam einzuschießen,

Gemeindrang12 eilt die Lücke zu verschließen.

Ja! diesem Sinne bin ich ganz ergeben,

Das ist der Weisheit letzter Schluß:

Nur der verdient sich Freiheit13 wie das Leben14,

Der täglich sie erobern muß.

Und so verbringt, umrungen von Gefahr15,

Hier Kindheit16, Mann und Greis17 sein tüchtig Jahr.

Solch ein Gewimmel möcht’ ich sehn,

Auf freiem Grund18 mit freiem Volke stehn.

Zum Augenblicke dürft’ ich sagen:

Verweile doch, du bist so schön19!

Es kann die Spur von meinen Erdetagen20

Nicht in Aeonen untergehn. –

Im Vorgefühl von solchem hohen Glück21

Genieß’22 ich jetzt den höchsten Augenblick.Johann Wolfgang von Goethe, Faust II

Ob Goethe mir böse wäre ob meiner Anmerkungen? Oder würde der Geheimrat noch viel drastischer umformulieren?

Materielle Absicherung

Nachdem mir die Figur „Faust“ so gut in das Thema Zeit hineingeholfen hat, schaue ich doch auch gleich, was das Werk „Faust“ zum Thema Geld, also der finanziellen Absicherung sagt.

Ist es Zufall, dass im „Faust II“ lediglich Mephisto und der Narr das Wort Geld überhaupt in den Mund nehmen? Es scheint fast, als ob dieses Werteäquivalent nur für Teufel und Narren Bedeutung haben würde. Und ganz recht – es sollte für den Menschen nicht wichtig sein, darum kämpfen zu müssen.

Erst wenn der Zwang nach materieller Absicherung ihren Platz im Kopf freigemacht hat, ist Kreativität wieder möglich.

Jetzt kann man natürlich sagen, mit einem enormen Vermögen im Rücken wie bei der eingangs erwähnten Dame, hat man schnell den Kopf wieder frei. Dem ist aber mitnichten so, was immer wieder die Reichen der Welt zeigen. Vermögen will und muss vermehrt werden, so jedenfalls eine gängige Denkweise in entsprechend finanziell abgesicherten Kreisen. Und schon ist der Kopf wieder gefüllt mit Gedanken ums liebe Geld, Besitzstandsschutz und möglichst effiziente Vervielfältigung desselben.

Dabei wird man durchaus kreativ – wenn auch auf eine rein bilanzbezogene, fiskaloptimierende Weise, oft hart am Rande ethischer, moralischer und auch gesetzlicher Grenzen, gewürzt mit temporärer Generosität.

Da wären wir aber auch gleich wieder bei der Frage, was wir der Welt hinterlassen. Geld ist für Erben sicher eine feine Sache, bringt eine Kultur aber nicht nach vorne.

Die bedeutenden Reichen, an die man sich auch erinnert, waren die, die das Geld im Fluss gehalten hatten. Förderer von Kunst, Architektur, Musik sind es, die sich sogar bei moralisch zweifelhaften Verhalten, wie z.B. die Medici’s, immer noch im gesellschaftlichen Gedächtnis eingebrannt haben.

Es soll mir aber gar nicht um das Betrachten der oberen Zehntausend gehen, das Potential liegt in der Menge – also den Millionen, die mittlerweile vergessen und verdammt sind, sich die sozialen Brotkrumen bei gleichzeitiger Sinnlosigkeit von Bedingungen und Aktivitäten, zu erbetteln. Es kommt mir mittlerweile so vor, als müsste der Pudel erst schwanzwedelnd tanzen, um ein Stückchen Fleisch überlassen zu bekommen. Dabei war auch der Pudel einst ein Wolf, der sich durchaus selbst ernähren konnte!

Ergo…

Was tun wir uns eigentlich noch alles an? Wir lassen uns unsere Zeit freiwillig von Konzernen stehlen, unsere Freiheit von selbstgewählten „Volksvertretern“ zerstören, unsere Produktivität durch Verfolgungs- und Trackingwahn minimieren und unseren Stolz in Säuren aus Gier und Machtmissbrauch auflösen.

Was, wenn es irgendwann jemandem auffällt? Was, wenn jemand die Händler und Geldwechsler aus dem Hause treibt, jemand 95 Thesen an Türen nagelt, eine Bastille schleift oder wieder einen Schuss von einem Panzerkreuzer abfeuert?

Fange ich mit mir selber an, beobachte und reduziere ich meinen Social Media Konsum, achte auf die materielle Grundabsicherung von meiner Familie und mir und fange ich wieder an, kreativ zu werden.

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