(unbeherrschbare) Funktionsflut im Automobil

Was braucht man zum Autofahren?

Nein, ich meine nicht den Führerschein, ich spreche von den Features, die mir das Fahren angenehm machen.

Die Automobilhersteller überfluten mit möglichst reißerischen Meldungen, welche neuen Funktionen künftig in Fahrzeuge eingebaut werden. BMW will sogar einen „kompletten Reset“ des Automobils, was auch immer das bedeuten mag.

Ich finde es immer wieder faszinierend, mit welchen Ausstattungslisten Autos heutzutage daherkommen. Und natürlich verstehe ich, Ausstattung bedeutet Aufpreis, bedeutet mehr Umsatz. Wofür bin ich aber bereit, mehr Geld auszugeben? Welche Funktionen sind mir wichtig?

Ein neues Auto in der Familie bringt auch wieder neue Funktionen, auch wenn ich diese nicht aktiv geordert habe, schließlich kaufe ich am Liebsten gebraucht.

LED Streifen in den Türen, gut sie stören nicht, RGB Beleuchtung um das Navi-Display, die stört schon eher bei Nachtfahrten, ein projiziertes Markenlogo aus dem Rückspiegel, ein nettes Gimmick. Meine Bereitschaft, dafür zu zahlen? Null. Entscheidungsrelevant für genau dieses Auto? Nein. Nutzen für den Fahrbetrieb? Null.

Ich weiß ja, was das Marketing predigt – Design schafft Markenbewusstsein, Wiedererkennbarkeit usw., aber Gimmicks auf der Aufpreisliste?

Es geht mir aber gar nicht um so vergleichsweise harmlose Spielereien wie Lichteffekte. Mir geht es um Funktionen, deren Nutzen zwischen zweifelhaft und bedenklich liegt, deren Konsequenzen kaum abschätzbar sind und deren Intension nicht wirklich klar ist.

Wie ich bereits in meinem Artikel über Function on demand geschrieben habe, kann eine Intension Steuer- bzw. Zollvermeidung sein. Für den Kunden ist das zwar gut gedacht, letztlich aber ethisch zumindest bedenklich, weil – da brauchen wir uns nichts vorzumachen – diese Steuerersparnis im Wesentlichen den Nutzern von besonders hochpreisigen Fahrzeugen zugute kommen – Steuergeschenke an die Vermögenden. Der Steuerzahler muss zwar nicht draufzahlen, aber zumindest reduziert es das Einkommen des Staates.

Die neuen Funktionen von Multimediaanwendungen im Fahrzeug haben doch auch eine „hidden agenda“, einen nicht offen kommunizierten Zweck, der nicht dem Kunden zugute kommt. Daten!

Mit unseren Mobiltelefonen haben wir uns schon gläsern gemacht, kommt jetzt das Auto mit dazu?

Einkommen generieren durch Werbung ist eine interessante Idee, bis irgendwann die Werbung über dem Kundennutzen steht. Irgendwann fängt Werbung auch an zu nerven und als Nutzer eines Produkts ist dies der Moment, wo man „mit den Füßen abstimmt“ und alternative Produkte sucht.

Werbung hat in meinen Augen drei Beteiligte: der Auftraggeber, der Umsetzer und die Zielperson. Getrieben wird der derzeitige Werbemarkt durch Umsetzer, wie Google, Facebook – die Tech-Giganten eben. Zahlen muss der Auftraggeber, dem suggeriert wird, ohne die (möglichst personalisierte) Werbung weniger Umsatz zu haben, was allerdings zu beweisen wäre.

Zahlen muss aber auch die Zielperson, mit der Lebenszeit, die für den Konsum der Werbung geopfert wird, mit Verletzung der Privatsphäre1 bis hin zu Intimbereichen2 bis hin zu Einschränkungen der Nutzbarkeit des werbebeladenen Features. Habe ich dann für das Feature keine oder nur begrenzten persönlichen Nutzen, werde ich das Feature früher oder später ignorieren und bei Nachkauf eines Produkts in meine Entscheidungsfindung als KO-Kriterium mit einbeziehen. So sind z.B. Smartphones mit Bloatware ein NoGo.

Gewinn macht bei dem ganzen Spiel nur der Umsetzer der Werbung, der hochgradig automatisiert mit minimalstem Aufwand Werbeanzeigen schaltet. Ok, die Kreativen Werbekontentersteller verdienen natürlich auch.

Aber jetzt mal die ernsthafte Frage – glaubt die Werbeindustrie wirklich, dass das unendlich so weitergeht? Und warum denkt die Automobilindustrie, hier mitmischen zu müssen? Reicht es nicht, ein Auto so zu entwickeln, dass man aus Überzeugung vom Nutzen das Fahrzeug bestellt?

In einem beiläufig mitgehörtem Gespräch kam eine interessante Information zutage, die ich zwar nicht überprüfen kann, für mich aber durchaus schlüssig klang. Warum mögen chinesische Autofahrer große Displays? Weil man hier gut Saugnäpfe für Smartphonehalterungen befestigen kann. Ich kann es ehrlich gesagt gut nachvollziehen – mein Navigationssystem im Auto ist mittlerweile veraltet, deutlich zu langsam und Staumeldungen kommen unzuverlässig. Ich navigiere mit dem Smartphone.

Bringt man ein Feature ins Fahrzeug muss man sich über Bedienkonzepte Gedanken machen. Läuft das Feature ohne Bedieneingriffe einfach mit, ist das zumindest erst einmal kein Problem, außer es fällt aus. Dabei denke ich jetzt nicht einmal an die Funktionale Sicherheit nach ISO 26262, sondern einfach an die Verständlichkeit der Fehlermeldungen und Folgeprobleme.

Neue Features mit Bedieneingriff sind dann schon eine andere Hausnummer. Hier muss über das Bedienkonzept definitiv nachgedacht werden, hoffentlich unter Berücksichtigung der SOTIF3 ISO 21448! Bringt dann ein Wettbewerber ein ähnliches Feature, sind der Übernahme von Bedienkonzepten schnell Schranken in Form von Patentschutz auferlegt. Kunde, du musst dich eben dann umgewöhnen, wenn du die Marke wechselst.

Vielleicht muss man endlich lernen, worauf es wirklich ankommt, was der Kunde tatsächlich will und nicht, was man als Entwickler sich für interessante Funktionen vorstellen kann. In manchen Fahrsituationen kann ich mir ein Maschinengewehr hinter dem Scheinwerfer auch vorstellen, umsetzen durfte es aber bisher nur „M“ für James Bond.

Was wären also Lösungsansätze?

Notwendig wäre meines Erachtens eine ganzheitliche Betrachtung von Features über technische Aspekte hinaus:

  • Kundennutzen
  • Auswirkung bei Ausfall des Features
  • Nutzen für OEM
    • direkt (Umsatz)
    • indirekt (Werbung, Datennutzung)
  • Risiko für den OEM
    • Weggang Kunden
    • fehlende Bereitschaft Werbung zu schalten
    • fehlende Bereitschaft Werbung zu konsumieren
    • Renomee-Verluste
  • ethische Betrachtung
    • Bevorzugung von Bevölkerungsschichten
    • gesellschaftliche Auswirkungen
    • Energieverbrauch

Das wäre zumindest ein Anfang und könnte bei ehrlicher Betrachtung so manches Feature bereits im Ansatz ad absurdum führen.

 

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