a number of owls are sitting on a wire

Pestalozzi in Nerdistan

Als bekennender Nerd, Ingenieur und Geek-Freak sollte das Thema Digitalisierung der Schule doch eigentlich klar sein – pro, pro, pro!

Ganz so einfach ist es aber nicht. Und das nicht nur, weil ich mal wieder einen Podcast1 gehört habe.

Aber der Reihe nach.

Nachdem in den letzten Jahrzehnten sich (gefühlt) auf dem Bildungssektor nicht viel getan hatte, hat sich jetzt ein neues Schlagwort etabliert, dass die Versäumnisse der Vergangenheit in Ordnung bringen soll. Digitalisierung.

Mächtig und bedeutungsschwer wird es in jedweder Diskussion angeführt und die potentiellen Möglichkeiten hervorgekehrt. Hält dieser Vorschusslorbeer aber einer Überprüfung stand?

Betrachten wir doch einmal, was die Digitalisierung letzthin bedeutet.

Wikipedia erklärt Digitalisierung zunächst als „Umwandeln von analogen Werten in digitale Formate“, d.h. aus Papier werden Dateien, aus Dias werden JPG’s, aus Folien werden Powerpoints u.s.w. Frech formuliert bedeutet das aber auch, aus Raider wurde Twix, sonst ändert sich nix! Die Verpackung bzw. das Transportmedium ändert sich, der Inhalt bleibt gleich.

Und da haben wir schon ein Dilemma. Ungenügende Inhalte werden durch Digitalisierung nicht besser.

Außerdem: Lehrern standen bereits zu meiner eigenen Schulzeit technische Hilfsmittel wie Overheadprojektoren, Dia- und Filmprojektoren, Tonband-, Kassetten-, Video- und CD-Abspielgeräte2, Fernseher, Mikroskope und räumeweise Arbeitsmaterialien zur Verfügung. Deren Verwendung hing damals und hängt auch heute vom verwendbaren Material3 und der Bereitschaft der Lehrer ab, sie auch a) zu kennen und b) zu verwenden, was technisch damals wie heute durchaus kafkaeske Züge annimmt.

Machen wir uns doch nichts vor, um schnell an „neuen“ Kontent für die Digitalisierung zu kommen, muss der alte analoge Kram digitalisiert werden.

Tatsächlich moderne Inhalte aus Plattformen wie YouTube oder Vimeo sind zwar reichlich vorhanden, müsste aber nach pädagogischen Gesichtspunkten, Urheberrechten und nach Verwendbarkeit geprüft und strukturiert bereitgestellt werden. Have a nice job, ehm day. Konsequent betrachtet müssten ausgebildete Pädagogen, Verwaltungsbeamte und Juristen sich durch Trillionen an Videos und Materialien durchfräsen, um sicherzustellen, dass keine Vorschriften missachtet und Lehrpläne korrekt adaptiert wurden.

Im Klartext bedeutet das, dass von 5 Mrd. Euro des Digitalpakts zunächst kaum Gelder in Technik sondern vielmehr in sichtende Mitarbeiter fließen müsste. Mal drüber nachgedacht?!

Nehmen wir mal großzügig an, Inhalte und Lehrplan könnten in Deckung gebracht werden und auch dem Urheberrecht4 wäre Genüge getan – wird damit die Schule tatsächlich besser?

Schaut man sich die Lehrpläne in Deutschland an, so fällt zumindest die große Varianz innerhalb der Bundesländer auf. Dabei haben wir noch nicht einmal wirklich tief in die Details geschaut.

Ohne diesen Fakt weiter kommentieren zu wollen, vernünftig ist diese Art der Schulplanung nicht.

Die Industrie wünscht sich ja immer öfter EDV-versierte Schulabgänger und die Politik plappert diesen Blödsinn geflissentlich nach. Ganz ehrlich, die Beherrschung des 10-Finger-Systems hat nichts mit IT-Kenntnissen zu tun! Und mittlerweile kann man getrost sagen, dass selbst eingefleischte IT’ler die Komplexität ihrer Systeme nicht mehr beherrschen. Und dann sollen es Kinder?! Wir reden schließlich von Menschen im Alter von 6-19 Jahren mit höchst individuellen Persönlichkeitsstrukturen, Interessen, kognitiven, sozialen, ethischen, manuellen und sonstigen Fähigkeiten, Begabungen oder aber auch Einschränkungen. Verrückte Welt.

Wir beschweren uns über die Zunahme des BMI, fordern aber Computerarbeit von den Kids?! Wie krank bitte ist das denn?

In meinen Basis-Workshops für Fotografie kommen immer wieder Fragen nach Beherrschung der Technik auf. Dabei ist die Technik nur ein Mittel zum Zweck, ein Tool. Und schon haben wir den nächsten Zusammenhang: „A fool with a tool is still a fool“.

Es nützt doch keinem Schüler, ein Programm wie z.B. Powerpoint zu beherrschen, wenn das Wissen für den Kontent fehlt (oder mühsam ergooglet werden muss) oder kein Gefühl für die Ästhetik einer Präsentation vorhanden ist. So rutscht man doch nur in vorgegebene Schemen einer Firma Microsoft!

Es ist ja nicht so, dass Computer Phantasie unterdrücken. Hier ist aber m.E. ganz klar der Werbespruch eines schwedischen Möbelhauses essentiell: „Erkenne die Möglichkeiten!“

In meinen Augen ist es viel wichtiger, den Kinden Kreativität im Umgang mit sich und der Technik zu erlernen, als irgendwelche vorgefertigten Technologien mit ablaufender Haltbarkeit vermittelt zu bekommen. Was heute „in“ ist, ist bereits übermorgen passé!

Einen weiteren Aspekt muss man bei dem Ganzen auch noch berücksichtigen – die technischen Fähigkeiten von Lehrern. Natürlich gibt es sie, die Nerds mit pädagogischem Staatsexamen und das ist auch gut so. Die Regel ist es aber nicht, dass Lehrer Technik wesentlich über die Grundlagen von Office-Anwendungen beherrschen. Es war bisher ja von ihnen auch noch nie gefordert, auch wenn jetzt schon wieder Änderungen für das Pädagogikstudium5 gefordert werden.

Mir persönlich ist es viel wichtiger, dass der Lehrer primär als Pädagoge statt als IT-Administrator auftritt.

Für Kinder sind Computer, Smartphones, Tablets & Co. letztlich gar nicht so wichtig, wie es immer propagiert wird. Besser Inhalte vermitteln können die elektronischen Helferlein nur marginal und bieten lediglich im Bereich der Visualisierung neue Möglichkeiten.

Daher wäre es mir persönlich viel lieber, wenn der Digitalpakt eine allgemeine Schulreform beinhalten würde, eine Abkehr vom Bildungsförderalismus, das Bereinigen der Lehrinhalte6, Stärkung der Kreativität7, manuellen, praktischen Fähigkeiten8 und einer kritischen Medienkompetenz9.

Ich habe (fast) fertig!

Ein kleiner Tipp noch an die Politik. Einflüsterungen der Industrie und überaus großzügige Angebote sind massiv mit Vorsicht zu genießen (Stichwort Medienkompetenz). Schaut bitte darauf, dass die bereitgestellten Gelder nicht (nur) in Technik (und somit erweiterten Konsum) sondern in tatsächlich für Kinder relevante Inhalte fließen!

 

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