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Nachteilsausgleich: kein Geschenk sondern Gerechtigkeit

Es ist immer wieder dasselbe Ritual. Kaum ist von einem Nachteilsausgleich die Rede – sei es in der Schule für Kinder mit Legasthenie oder Dyskalkulie, oder im großen Maßstab beim Länderfinanzausgleich – schon geht das Gezeter los. Sofort steht dieser zynische Reflex im Raum: Da bekommt doch jemand „etwas geschenkt“. Mehr Zeit. Mehr Geld. Mehr Unterstützung. Und die Reaktion ist stets die gleiche: Missgunst, Neid, Empörung. Ein ungebremster Reflex, der tief in unsere gesellschaftliche DNA eingesickert ist. Doch was dabei vollkommen ignoriert wird: Es geht hier nicht um Privilegien, sondern um das bloße Wiederherstellen von Chancengleichheit1 – und damit am Ende um die Zukunftsfähigkeit unserer ganzen Gesellschaft.

Die bittere Realität in der Schule

Ein Kind mit Lese-Rechtschreib-Schwäche schreibt einen Aufsatz. Ohne Nachteilsausgleich verliert es gnadenlos Punkte, weil Rechtschreibung in das Gesamtergebnis einfließt – obwohl es inhaltlich brillant sein mag. Mit einem Nachteilsausgleich bekommt dieses Kind mehr Zeit oder eine andere Bewertungsgrundlage. Und was passiert? Die Eltern anderer Kinder murmeln sofort etwas von „Sonderbehandlung“. Mitschüler tuscheln. Lehrer rollen genervt die Augen.

Es ist erschütternd, wie früh schon die Saat der Verrohung aufgeht: Statt Empathie und Verständnis tritt Neid und Aggression auf den Plan. Ausgerechnet da, wo Kinder lernen sollten, dass Gerechtigkeit nicht Gleichmacherei bedeutet, sondern die realen Unterschiede im Alltag berücksichtigt.

Dabei wäre gerade jetzt Weitblick gefragt. Denn Nachteilsausgleiche sind keine einseitige Investition. Sie zahlen sich – oft zeitversetzt – zurück. Wer einem Kind mit Dyskalkulie ermöglicht, den Mathe-Unterricht nicht als lebenslange Niederlage, sondern als Herausforderung mit Unterstützung zu erleben, verhindert damit nicht nur Frustration, sondern langfristige Bildungsabbrüche und Schulkarrieren im Schatten.

Heute wird ein Kind durch Nachteilsausgleich „getragen“, morgen trägt es vielleicht selbst – als Fachkraft, als Steuerzahler, als innovativer Kopf. Wer das ignoriert und lieber an der „Gerechtigkeitsdebatte“ klebt, sägt an der eigenen gesellschaftlichen Zukunft. Opportunitätskosten mal mitgerechnet.

Nachteilsausgleiche sind bisher nur zu einem Bruchteil der notwendigen Ausgleichsaktivitäten überhaupt verankert! Ein Blick in mein Buch „Bildung neu denken“ zeigt noch eine Vielzahl an möglichen Nachteilen, die Kinder in der Jetztzeit haben können.

Cover Buch Bildung neu denken

 

Die große Bühne: Länderfinanzausgleich

Und auf höherer Ebene dasselbe Schauspiel. Bundesländer wie Bayern oder Hessen schäumen regelmäßig vor Wut, weil sie Geld an strukturschwächere Länder zahlen müssen. Ministerpräsidenten wie Markus Söder schwingen sich zur Stimme der vermeintlich „Benachteiligten“ auf – was für eine Farce. Hier trifft ein bayerischer Ministerpräsident, der an der Spitze eines wirtschaftlich starken Landes steht, die Pose des Opfers. Wieder dieselbe rhetorische Leier: „Abgabe“, „Geschenk“, „Subvention von Faulheit“.

Doch diese Empörung beruht auch auf Geschichtsvergessenheit. Denn Bayern war über Jahrzehnte selbst Empfänger im Länderfinanzausgleich – und zwar nicht zu knapp. Bis weit in die 1970er Jahre hinein floss Geld von den reichen Bundesländern nach Bayern, damit überhaupt eine halbwegs konkurrenzfähige Infrastruktur entstehen konnte. Erst ab den 1980er Jahren entwickelte sich Bayern vom Empfänger- zum Geberland. Mit anderen Worten: Der wirtschaftliche Aufstieg, auf den man sich heute so stolz beruft, wäre ohne diese Jahrzehnte der Unterstützung gar nicht möglich gewesen. Straßen, Schulen, Industrieansiedlungen – all das wurde mitfinanziert durch Gelder aus dem Finanzausgleich. Es kommt also nicht nur „etwas zurück“, sondern Bayern selbst ist der historische Beweis, dass dieser Mechanismus funktioniert.

Doch statt diese Erfahrung weiterzutragen, als Beleg dafür, dass Ausgleich nicht „verschenktes Geld“ ist, sondern Investition in die Zukunft, wird heute der Spieß umgedreht. Anstatt Solidarität zu zeigen, wird die Leiter, über die man selbst nach oben gestiegen ist, hinter sich weggetreten. Gerade Söder müsste wissen: Ohne Ausgleich wäre Bayern noch in den 1960ern Agrarland geblieben. Ausgerechnet Bayern zu hören, „es werde zu viel verschenkt“, ist daher nicht nur scheinheilig, sondern regelrecht historisch dreist.

Die Verrohung der Debatte

Was sich im Klassenzimmer zeigt, setzt sich in der politischen Arena fort: die Unfähigkeit zum Perspektivwechsel. Es ist nicht schwer zu verstehen, warum ein Kind mit Dyskalkulie andere Prüfungsbedingungen braucht. Es ist auch nicht schwer zu verstehen, warum Mecklenburg-Vorpommern ohne finanzielle Hilfe aus Bayern nicht dieselben Chancen auf Bildung, Infrastruktur oder medizinische Versorgung hätte. Schwer ist einzig der Schritt, sich vom Reflex der Missgunst zu lösen und anzuerkennen, dass das kein „Bonus“ ist, sondern schlicht Gerechtigkeit. Doch „Gerechtigkeitsdebatten“ werden in Deutschland regelmäßig zur Blockade: lieber streiten, ob jemand „zu viel“ bekommt, als klar zu sehen, dass ein solcher Ausgleich ein Investment ist.

Für Kinder ist dieser toxische Reflex besonders zerstörerisch. Wir leisten es uns tatsächlich, durch endlose Diskussionen über vermeintliche „Bevorzugung“ gebildeten Nachwuchs zu verhindern. Bildung ist unsere einzige echte Ressource – in einem Land ohne Öl, ohne Gas, ohne gigantische Rohstoffvorkommen. Wer den Nachteilsausgleich kleinredet, verhindert nicht Privilegien, sondern verhindert Talente. Wir können es uns als Gesellschaft schlicht nicht leisten, Kinder aus Misstrauen und Neid scheitern zu lassen. Jeder verlorene Bildungsweg ist ein Verlust für uns alle. Und: er ist vermeidbar.

Warum langfristiges Denken fehlt

Der Kern des Problems ist das erschreckende Kurzzeitdenken. Politik und Gesellschaft wollen Ergebnisse sofort. Alles andere zählt nicht. Wer heute Unterstützung erhält, gilt sofort als Belastung, als „Beschenkter“. Dass dieselbe Unterstützung in zehn oder zwanzig Jahren dazu führt, dass aus einem Schulabbrecher ein Ingenieur wird, und aus einem strukturschwachen Bundesland ein Innovationsstandort, interessiert nicht. Langfristigkeit lässt sich schlecht in Schlagzeilen verpacken. Empörung hingegen funktioniert sofort. So wird gesellschaftliche Ungeduld zur Sabotage der eigenen Zukunft.

Doch alles spricht dafür, hier radikal umzusteuern. Denn jedes Kind, dem wir durch Nachteilsausgleich Bildung und Selbstvertrauen schenken, zahlt es zurück – in Form von Kreativität, Arbeitskraft, Steuern. Jeder Euro im Länderfinanzausgleich ist keine Einbahnstraße, sondern ein Umlauf, der über Wirtschaft, Konsum, Innovation zurückfließt. Die Verweigerung, dies anzuerkennen, ist keine „harte Gerechtigkeit“, sondern schlichte Dummheit.

Fazit: Nachteilsausgleich ist Zukunft

Nachteilsausgleich ist das Gegenteil von Geschenk. Er ist kein teures Almosen, sondern eine Investition, die über Jahre und Jahrzehnte Wirkung entfaltet. Wer heute Kindern Nachteilsausgleich verweigert, spart kurzfristig – und verliert langfristig ein Vielfaches. Wer heute Länderfinanzausgleich kleinredet, mag politischen Applaus ernten – doch er verhindert wirtschaftlichen Aufstieg und gesellschaftliche Stabilität von morgen. Es geht nicht um Gnade, nicht um Luxus, sondern um kluge Politik und kluges Handeln. Am Ende entscheidet sich an der Frage des Nachteilsausgleichs, wie ernst wir es mit Gerechtigkeit meinen – und ob wir bereit sind, in unsere Zukunft zu investieren, anstatt sie im Klein-Klein der Neiddebatten zu verramschen.

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